Chronik der dunklen Wälder - Blutsbruder (German Edition)
Rindengesichter blickten sie finster an, Zweigfinger zogen sie an den Haaren. Einige Stämme waren hohl. Sie stellte sich vor, dass man dort drin wie in einer Falle feststeckte, und ging eilig weiter.
Der Wind frischte auf und blies ihr Ruß ins Gesicht. Sie hustete und hustete, bis sie sich schließlich vornübergebeugt an einen Baum lehnen musste.
Unter ihren Fingern spürte sie Augen.
Mit einem Schrei riss sie die Hand zurück.
Ja, Augen. Ein wütender roter Blick war in den Stamm geschnitzt, dazu ein gerader Mund, in dem echte Menschenzähne steckten.
Renn hatte so etwas noch nie gesehen. Vermutlich hatte das jemand gemacht, um dem Geist des Baumes einen Ausdruck zu verleihen. Wer aber setzte einem Baum Zähne ein?
Beklommen schaute sie sich um. Linden, Nesseln, dazwischen ein paar Steinbrocken.
Sie ging weiter.
Als sie sich umdrehte, hatten sich die Bäume bewegt. Sie war ganz sicher, dass die Linden dort soeben noch viel näher an dem Stein gestanden hatten. Jetzt waren sie weiter auseinandergerückt.
Sie fing an zu rennen.
Eine Wurzel brachte sie zum Stolpern, sie fiel hin – und sah sich erneut aus nächster Nähe einer Baummaske gegenüber, deren Augen diesmal fest zusammengekniffen in dem von Flechten verkrusteten Gesicht saßen.
Keuchend rappelte sie sich auf.
Die Augen öffneten sich. Rindenglieder lösten sich vom Stamm. Rindenhände streckten sich nach ihr aus.
Wimmernd ergriff sie die Flucht.
Links von ihr löste sich ein weiteres Borkenwesen aus einem Stamm. Dann noch eins und noch eins. Borkenmenschen kreisten sie ein, streckten knorrige Hände nach ihr aus, sahen sie mit ausdruckslosen runzligen Gesichtern an.
Beim Laufen schlug ihr die Axt gegen den Oberschenkel. Sie riss sie aus dem Gürtel, wusste aber sogleich, dass sie es nicht wagen würde, sie zu benutzen.
Bei jedem Atemzug kratzte es schmerzhaft im Hals. Mit albtraumhafter Trägheit watete sie durch Berge raschelnder Blätter. Sie stolperte einen Hang hinab und landete in der nächsten Baumknochenstätte, wo sie mühsam über umgestürzte Stämme balancierte, während die Borkenleute wie Feuer auf ihnen entlangrannten und sie unter unheimlichem Schweigen jagten.
Etwas zog sie an der Schulter, riss sie zurück. Ihr Bogen hatte sich an einem Zweig verfangen. Hastig versuchte sie, ihn loszumachen.
Borkenhände packten sie und zogen sie nach unten.
Kapitel 22
»Wo bringt ihr mich hin?«, fragte Renn.
Die Borkenmänner antworteten nicht.
»Bitte. Warum sagt ihr nichts? Was habe ich euch getan?«
Einer von ihnen piekte sie mit seinem Speer. Sie verspürte keine Lust darauf, dass er es noch einmal tat, und verkniff sich weitere Fragen.
Den ganzen Tag über war sie in der schweigenden Gruppe von Jägern gegangen. Sie hatten ihr alle Waffen abgenommen, sie aber seither nicht mehr angefasst. Sie schienen sie als unsauber anzusehen.
Vergeblich hatte sie um Wasser gebeten. Die Borkenmänner hatten sie einfach ignoriert. Sie stolperte durch einen Schleier aus Durst und einen Wald aus vergifteten Speeren.
Renn hatte keine Ahnung, wo sie sich befand. Das große Feuer hatte diesen Teil des Waldes zwar verschont, aber sein Gestank hing noch überall in der Luft. Das verkohlte Land konnte nicht weit entfernt sein.
Aus den grünen Stirnbändern und Hornamuletten ihrer stummen Begleiter schloss sie, dass es sich um Angehörige des Auerochsenclans handeln musste, aber für sie waren es Borkenmenschen. Ihre Kleidung bestand aus gelblich braunem Rindenbast und in ihren Ohrläppchen steckten Rindenröllchen. Die geschorenen Schädel waren mit rissigem gelbem Lehm überzogen, was ebenfalls an Rinde erinnerte, auch die Bärte der Männer waren mit diesem Lehm verklebt und sahen wie wuchernde Baumwurzeln aus. Aber im Unterschied zu den Auerochsen, denen sie bei den Sippentreffen begegnet war, war das noch lange nicht alles. Diese hier hatten ihre gesamte Haut so bearbeitet, dass sie wie Baumrinde aussah, und ihre Hände und Gesichter mit groben, wulstigen Narben entstellt.
Renn wusste ein wenig über solche Narben Bescheid. Einige aus ihrem eigenen Clan, darunter auch Fin-Kedinn, trugen einen Zickzackwulst auf jedem Arm, um Dämonen fernzuhalten. Sie sich zuzufügen war sehr schmerzhaft. Nachdem man die Haut mit einem Feuersteinsplitter aufgeritzt hatte, wurde eine Paste aus Asche und Flechte hineingerieben und die Wunde fest verbunden. Bei dem Gedanken, sich das Gesicht aufzuritzen, wurde Renn beinahe schlecht.
Als sie zum nächsten
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