Chronik der dunklen Wälder - Blutsbruder (German Edition)
sah ihr in der roten Dunkelheit in die Augen. Ihr Gesicht war von einer strengen Schönheit. Ein Schauer lief ihm die Wirbelsäule hinunter.
Dann war sie wieder seine Freundin, die hinter sich langte und ihm ein Paar Lederstiefel zuwarf. »Die habe ich einem Luchs gestohlen. Ich hoffe nur, dass sie passen.«
Er streifte sie über. »Kannst du laufen?«, fragte sie und spähte aus der Hütte.
»Muss ich ja wohl.«
Der Mond war untergegangen, die Fackeln waren heruntergebrannt; beide Lager lagen still und dunkel da. Rings um die Hütte schliefen vier Jäger lang ausgestreckt neben ihren Waffen auf dem Boden. Sie atmeten so schwach, dass Torak sie zuerst für tot hielt. Er schnappte sich einen Bogen und einen Köcher und schob sich eine Axt hinter den Gürtel.
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie das offene Gelände überquert und die Fackeln erreicht hatten. Torak hatte dröhnende Kopfschmerzen und bei jedem Schritt brannten seine geschundenen Glieder. Als Renn in der Dunkelheit verschwand, glaubte er schon, sie verloren zu haben. Da tauchte sie mit ihrem Bogen und ihrem Köcher wieder auf und drückte ihm etwas in die Hand. Es war sein Messer.
»Wie hast du –«
»Ich habe dir doch gesagt, dass sie alle fest schlafen!«
Endlich waren sie am Lager der Auerochsen vorbei und kauerten hinter einem Wacholdergestrüpp. Renn beugte sich zu ihm, ihre Haare kitzelten an seiner Wange. »Sie haben mich mit verbundenen Augen hierhergebracht. Ich weiß nicht, wo wir sind. Du etwa?«
Er nickte. »Wir sind in Einbäumen hergekommen. Das Schwarzwasser befindet sich ungefähr zwanzig Schritt in diese Richtung. Wir nehmen uns ein Boot und paddeln flussaufwärts. Dann lassen wir das Boot zurück und schlagen uns zum nächsten Tal durch, das ist das Tal der Pferde. Und von dort aus ist es nicht mehr weit zum Heiligen Hain.«
Sie runzelte die Stirn. »Dann auf zu den Booten.«
Sie erreichten den Fluss ohne Zwischenfall und fanden eine Reihe von Einbäumen, die dort auf dem Uferstreifen lagen. Leise schoben sie das letzte Boot ins flache Wasser und Torak stieg hinein. Die Aufregung der Flucht hatte die Schmerzen von seinen Prellungen verdrängt. »Die Strömung ist nicht stark«, sagte er leise. »Wenn wir kräftig paddeln, können wir ihn sogar noch einholen.«
Renn stand im Wasser, die Stiefel an Schnüren um den Hals hängend, machte aber keine Anstalten, einzusteigen. »Torak. Dreh das Boot um.«
»Was?«, fragte er ungeduldig.
»Wir dürfen Thiazzi nicht verfolgen. Noch nicht.«
Er starrte sie ungläubig an.
»Wenn du ihn jetzt umbringst«, flüsterte sie, »bestätigst du damit jede seiner Lügen, die er ihnen über den Weiten Wald erzählt hat.«
»Aber … Renn. Was redest du da?«
»Wir müssen in den Weiten Wald zurück. Fin-Kedinn suchen. Die Clans davor warnen, was hier geschieht.«
»Das ist nicht dein Ernst.«
Sie watete auf den Einbaum zu und packte ihn mit beiden Händen. »Torak, ich habe diese Leute gesehen! Sie tun alles, was er sagt. Zerschneiden sich ihre Gesichter, hacken Hände ab. Sie werden den Weiten Wald angreifen!«
Torak wurde zornig. »Ich habe einen Schwur geleistet, Renn. Ich habe geschworen, meinen Blutsbruder zu rächen.«
»Hier geht es um mehr als Blutrache. Verstehst du das denn nicht? Wenn Thiazzi stirbt, halten sie es für eine Verschwörung aus dem Weiten Wald.«
»Aber er ist überhaupt nicht ihr Schamane! Sobald er tot ist, können es alle sehen!«
»Es wird ihnen egal sein! Denk nach, Torak! Wenn du ihn tötest, sehen sie das als Beweis dessen, was er gesagt hat. Sie würden sofort angreifen. Und der Weite Wald würde sich wehren. Dann gibt es kein Halten mehr!«
Er wollte sie an den Schultern nehmen und durchschütteln. »Du hast gesagt, dass du mir hilfst. Willst du mich jetzt im Stich lassen?«
Sie zuckte zusammen, als hätte er sie geschlagen. »Wenn du Thiazzi verfolgen willst, bleibt mir keine andere Wahl. Einer von uns muss die Clans im Weiten Wald warnen.« In ihrer Stimme vernahm er den Klang von Fin-Kedinn: die gleiche unerbittliche Entschlossenheit, wenn es darum ging, das Richtige zu tun, koste es, was es wolle.
»Renn«, sagte er. »Ich kann jetzt nicht umkehren. Und ich brauche dich. Du musst mitkommen. Es geht hier nicht um mich.«
»Ich kann nicht mitkommen, Torak!«
Er sah sie an. Das schwarze Wasser strudelte um ihre Waden. »Dann ist es eben so«, sagte er, tauchte das Paddel ein und machte sich auf den Weg flussaufwärts.
Kapitel 27
Renn
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