Chronik der dunklen Wälder - Blutsbruder (German Edition)
Galopp. Wieder brachen sie durch die Weiden. Die Stute wurde langsam müde und auch Toraks Kräfte ließen nach. Seine Glieder taten weh, aber immer weiter ging es durch ein Gewirr aus schwarzen Ästen und Rabenflügeln.
Der Windfluss verschwand unter der Erde, die Weiden gingen in Fichten über. Im Osten sah Torak einen schmalen Streifen Morgenrot, fahl noch wie eine Wunde.
Mit laut hallendem Hufschlag kamen sie zwischen den heiligen Bäumen an, und Torak spürte sofort, wie ihn die Macht Thiazzis umfing. Die Stechpalmen waren der Stute sichtlich unangenehm, aber was sie auch aufgeschreckt haben mochte, es trieb sie nun voran.
Sie roch das Feuer noch vor ihm. Dann sah Torak es ebenfalls: schwarzer Rauch, der sich in den blutroten Himmel bohrte. Seine Befürchtungen zogen sich zu einem Stein in seinem Bauch zusammen. Kam er zu spät?
Er legte die Hand auf den Beutel an seinem Gürtel und berührte das Medizinhorn. Er war so außer Atem, dass er nicht laut beten konnte, aber innerlich flehte er seine Mutter an, Renn zu retten. Er betete zum Weltgeist. Und er rief Wolf.
Als Wolf und Dunkelfell hinter den Pferden herjagten, spürte Wolf, dass der Zweck ihrer Jagd ein anderer wurde, obwohl er nicht wusste, welcher.
Er verfiel in einen langsameren Trott und auch Dunkelfell wurde langsamer. Er stellte die Ohren auf. Der Wind trug ein leises, hohes Wehklagen heran; es war höher als das höchste Wolfsgeheul und das durchdringendste Fledermausfiepen.
Auch Dunkelfell hörte es, aber sie erkannte es nicht. Wolf sehr wohl. Es war das Jaulen des Hirschknochens, den Groß Schwanzlos an seiner Flanke trug. Der Hirschknochen, der normalerweise stumm war, jetzt aber zu singen angefangen hatte.
Gleichzeitig hörte Wolf ein zweites Geräusch, aber das konnte Dunkelfell nicht vernehmen, denn es ertönte in Wolfs Kopf. Es war Groß Schwanzlos, der nach ihm heulte, genau so, wie Wolf vor langer Zeit nach Groß Schwanzlos geheult hatte, in jener schrecklichen Zeit, als die bösen Schwanzlosen ihn in der Steinhöhle gefangen hatten. Rudelgefährte! Komm zu mir! Die Rudelgefährtin ist in Gefahr!
Eine kalte Nase stieß Wolf in die Flanke. Dunkelfell war verwirrt. Warum gehst du so langsam?
Wolf wusste nicht, was er tun sollte. Er ist Nicht-Wolf, sagte er zu ihr.
Dunkelfells Blick wurde ernst. Ihr seid Rudelgefährten gewesen. Ein Wolf lässt seinen Rudelgefährten nicht im Stich.
Wolf stand elend und unschlüssig auf dem Pfad, lauschte dem Geheul in seinem Kopf, während das Heiße Helle Auge über die Berge spähte und der Wind ihnen den Geruch des Hellen-Tieres-das-heiß-beißt zutrug.
Kapitel 34
Von dem Gestank nach verbranntem Fleisch wurde Renn richtig übel.
»Du bist als Nächste dran«, hatte ihr Thiazzi mitgeteilt. Sie hatte nicht darauf reagiert, aber er hatte trotzdem gelacht.
Nach der schrecklichen Fahrt in dem Einbaum hatte er sie über seine Schulter geworfen und war in den Wald marschiert. Sie war wie ein Sack hin und her geschaukelt und bei jedem Schritt mit dem Gesicht gegen seinen Rücken gestoßen.
Sie hatte gleich gewusst, wann sie den Heiligen Hain erreicht hatten, denn die Bäume waren ihr sofort besonders wachsam vorgekommen. Sie hatten sie beobachtet, aber sie hatten ihr nicht geholfen. Für sie war Renn so unbedeutend wie Staub.
Der Seelenesser hatte sie durch einen großen Wall aus Dornen und vorbei an der Glut eines großen, runden Feuers getragen. Er war einen mit Sprossen versehenen Kiefernstamm hinaufgeklettert, der an einen gewaltigen Baum gelehnt war. Renn hatte abblätternde Rinde gesehen und Eibenholzduft eingeatmet. Sie hatte versucht, nicht an ihren Bogen zu denken. Dann hatte Thiazzi Zweige beiseitegeschoben und sie abgeworfen, woraufhin sie in das ausgehöhlte Herz der Großen Eibe geplumpst war.
Ihre Hand- und Fußgelenke waren aufgescheuert, und die Schultern taten ihr weh, weil sie schon so lange gefesselt waren. Der Mund schmerzte vom Knebel, doch sie konnte nicht einmal darauf herumkauen, Thiazzi hatte ihn viel zu fest gebunden. Am schlimmsten war, dass sie auf dem linken Bein gelandet war, das jetzt verdreht unter ihr lag. Sobald sie sich bewegte, schoss ihr ein stechender Schmerz durchs Knie.
Die ganze endlose Nacht hindurch hatte sie zusammengekrümmt in der Dunkelheit gelegen und ihrem ängstlichen Atem gelauscht. Um nicht völlig zu verzweifeln, hatte sie sich vorgestellt, dass irgendwo über ihr der Vollmond am Himmel stand. Dann musste sie daran denken, dass seine Kraft
Weitere Kostenlose Bücher