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Chronik der dunklen Wälder - Blutsbruder (German Edition)

Chronik der dunklen Wälder - Blutsbruder (German Edition)

Titel: Chronik der dunklen Wälder - Blutsbruder (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Paver
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schon bald nachlassen würde, wenn der Himmelsbär ihn erwischen und sich an ihm mästen würde.
    Zum ersten Mal in ihrem Leben gab es nichts, worauf sie hoffen konnte. Auch nicht auf Torak, weil Thiazzi ihn töten würde. Wenn er aber nicht kam, würde Thiazzi sie töten.
    Rings um sie erhoben sich die ausgezehrten Flanken der Großen Eibe: voller Risse, schartig, aber mit wild entschlossenem Lebenswillen. Sie schob sich ein Stück zur Seite, um ihre verkrampften Glieder zu entlasten, zerdrückte Eulenköttel unter sich und Knochen, einige größer, andere brüchig und spröde wie Frost. Ich liege auf den Überresten von tausend Wintern, dachte sie.
    Hoch über ihr, in unerreichbarer Ferne, wechselte ein kleines Fleckchen Himmel allmählich von Grau zu Hellrot, ein letzter Stern blinkte darin. Sie verdrehte den Hals, um ihn zu sehen, woraufhin sich eine Spinne über ihr Knie in Sicherheit brachte. Renn wünschte, sie würde zurückkommen. Sie wollte nicht allein sein.
    Sie sehnte sich nach ihrem Bogen. So viele Sommer war er ein Teil von ihr gewesen, ein stummer Freund, der sie niemals im Stich gelassen hatte. Jetzt hörte sie immer wieder dieses fürchterliche Knacken.
    Ihr war nichts mehr geblieben. Weder Messer noch Axt noch Medizinhorn. Nicht einmal die Pfeife, um Wolf zu rufen, keine Möglichkeit, um Rip und Rek auf sich aufmerksam zu machen. Sie würde hier ganz allein sterben. Ungesühnt.
    Als sie sich gegen die Eibe lehnte, bohrte sich etwas in ihren Unterarm. Es war ihr Handgelenkschutz. Wenigstens ist mir der noch geblieben, dachte sie.
    Er bestand aus poliertem Grünstein, sehr glatt und sehr schön. Fin-Kedinn hatte ihn für sie gemacht, als er ihr gezeigt hatte, wie man mit Pfeil und Bogen umging. Der Gedanke an ihn war ein Lichtblitz in der Dunkelheit. Sie würde nicht ungesühnt sterben. Fin-Kedinn würde alles herausbekommen und dann musste sich Thiazzi in Acht nehmen. Wenn der Anführer der Raben erst einmal in Zorn geriet, war er gefährlicher als jeder Seelenesser. Renn stellte sich vor, wie die Falten im Gesicht ihres Onkels sich zu gemeißeltem Sandstein verhärteten, seine Augen zu einem leuchtend blauen Starren wurden. Sie setzte sich noch aufrechter hin.
    Fin-Kedinn hatte gesagt, der kostbarste Besitz eines Jägers sei nicht sein Flammenstein oder seine Waffen, sondern vielmehr das Wissen, das er in seinem Kopf stets bei sich trug.
    Denk nach, ermahnte sich Renn. Denk nach.
    Der Geruch nach Rauch erschwert es ihr, einen klaren Gedanken zu fassen.
    Der Rauch.
    Er kam nicht von oben; dieser Flecken Himmel war ganz klar. Aber er musste von irgendwoher kommen.
    Nachdem sie sich vorsichtig einmal rings um die Eibe getastet hatte, fand Renn mehrere Spalten und Risse im Holz: keiner breiter als ein Finger, aber zumindest konnte sie vielleicht erkennen, was draußen vor sich ging.
    Dieser kleine Sieg der Vernunft über die Angst ließ sie ein wenig aufleben. Umständlich kam sie auf die Füße, hüpfte, wobei sie die Belastung auf ihr gesundes Bein legte, zum nächsten Spalt und spähte hinaus.
    Sie erblickte das Feuer mit seiner grauenhaften Opfergabe; dicht dahinter den Stamm einer gewaltigen Eiche. Borkengesichter glotzten sie an, aber die Zweige waren von Mehltau befallen und nackt.
    Renns Herz machte einen Satz. An der Eiche lehnte die hölzerne Leiter. Thiazzi hatte sie nicht an der Eibe stehen lassen, wie sie geglaubt hatte. Aber selbst wenn es ihr erstaunlicherweise gelungen wäre, Hände und Füße zu befreien und zu diesem Himmelsflecken hinaufzuklettern, hätte sie sich wahrscheinlich bei dem Versuch, hinunterzukommen, das Genick gebrochen.
    Aber selbst wenn nicht… Hinter der Eiche war dieser Wall aus Dornengestrüpp: brusthohe Wacholderbüsche umstanden den Kreis der heiligen Bäume und das Feuer. Thiazzi hatte den Kreis geschlossen, nachdem er sie hineingetragen hatte. Falls irgendjemand kam, würde er unmöglich hereingelangen, und sie wusste nicht, wie sie hinauskommen sollte.
    Gerade als sie durch den Spalt schaute, ging ein Schatten auf der anderen Seite vorüber. Sie zuckte erschrocken zurück und fiel hin, stieß sich das Knie und heulte vor Schmerz auf.
    Thiazzi lachte. »Es dauert nicht mehr lange.«
    Entschlossen kroch sie wieder zu dem Spalt.
    Der Eichenschamane umkreiste das Feuer, wodurch er immer wieder kurz zu sehen war, dann wieder nicht. Er trug nach wie vor seinen Blätterumhang, hatte die Kopfbedeckung aber nicht aufgesetzt; seine langen Haare hingen offen herab, und

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