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Chronik der dunklen Wälder - Schamanenfluch: Band 4 (German Edition)

Chronik der dunklen Wälder - Schamanenfluch: Band 4 (German Edition)

Titel: Chronik der dunklen Wälder - Schamanenfluch: Band 4 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Paver
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bevor?
    In Selbstgespräche vertieft, torkelte er flussaufwärts und betastete dabei die Wunde auf seiner Brust. Er hatte die Fäden herausgerissen, aber sie war immer noch nicht verheilt.
    Torak lief lange Zeit, bis er den Saum des Waldes erreicht hatte und sich auf einer Hügelflanke wiederfand. Der Ostwind blies ihm seinen eisigen Atem ins Gesicht. Vor ihm erstreckte sich ein breiter See bis zu den Hohen Bergen: eine schier unendliche, dunstig schimmernde graue Fläche. See, Nebel und Regen verschwammen ineinander. Unmöglich zu sagen, wo das eine aufhörte und das andere begann. Die Welt hatte sich in Wasser verwandelt.
    Der Axtkopfsee, dachte er benommen. Das musste er sein.
    Ein merkwürdiger, zitternder Schrei durchschnitt die Stille.
    Torak schreckte auf.
    Der Schrei verhallte, doch das Echo klang in Toraks Schädel nach.
    »Der Axtkopfsee ist irgendwie anders«, hatte Renn einmal zu ihm gesagt. »Genau wie die Otter.« Beim letzten Winterfest hatte Torak einige von ihnen gesehen, wusste jedoch nicht viel über sie. Der Streuner hatte zum Otterclan gehört, aber sie hatten ihn verbannt.
    Unter ihm bahnte sich der Axtknauf durch ein sumpfiges Schilfbett einen Weg aus dem See. Weiter im Süden glitzerte wässrig grünes Licht im Nebel. Das Lager des Otterclans. Torak hatte einmal gehört, dass er ausschließlich am südlichen Strand des Sees sein Lager aufschlug, den Grund dafür kannte er allerdings nicht. Besser, er blieb ihrem Lager fern und hielt sich nach Norden.
    Wolf tauchte auf und begrüßte ihn unterwürfig, indem er die nasse Flanke gegen Toraks Oberschenkel rieb. Dann stiegen sie Seite an Seite den Abhang hinunter.
    Der Boden wurde zusehends sumpfiger. Sie sprangen von Sumpfgrasbüschel zu Sumpfgrasbüschel und jedes Mal stieg eine silbern glitzernde Fontäne aus Wassertropfen auf. Das Schilf war keineswegs nur kniehoch, wie es zuerst den Anschein gehabt hatte, sondern wesentlich höher und reichte Torak bis über den Kopf.
    Torak konnte Röhricht nicht ausstehen. Er verabscheute das trübe, brackig riechende Wasser, das die breiten Stängel umspülte, die bedrohlichen, messerscharfen Blattspreiten und die gebeugten braunen Kolbenköpfe, die ihn verschlagen beäugten.
    Er erreichte ein Sumpfgrasbüschel, das einem Kauernden glich, der gerade im Begriff war, sich zu erheben. Direkt dahinter führte ein Steg ins Schilfdickicht. Obwohl der Pfad lediglich aus notdürftig mit Weidenborke zusammengebundenen Holzstäben bestand, spürte Torak die Macht, die davon ausging, und er vernahm ein leises, kaum wahrnehmbares Summen.
    Um nichts in der Welt würde er diesen Steg betreten.
    Das Schilfdickicht zu seiner Rechten, ging er mit schmatzenden Schritten Richtung Norden. Zu Toraks Erleichterung entdeckte Wolf bald festen Boden: ein Elchwechsel, der unweit des Ufers verlief. Doch als kurz darauf dichte Nebelschwaden aufstiegen und die beiden umhüllten, verließ ihn erneut der Mut.
    Auch der vorantrottende Wolf wirkte bedrückt. Dann verschluckte ihn mit einem Mal der Nebel und Torak war allein. Er wagte nicht, leise zu heulen, aus Angst davor, welches Wesen seinen Ruf womöglich beantwortete. Er streckte die Hände aus und tastete sich Schritt für Schritt vorwärts.
    Wie aus dem Nichts prallte Wolf mit einem Mal gegen ihn. Seine Augen waren vor Entsetzen weit aufgerissen und traten beinahe aus den Höhlen. Er hechtete an Torak vorbei und verschwand in der Richtung, aus der sie gekommen waren. Im selben Augenblick sanken Toraks Finger in etwas feuchtkaltes, stinkendes Weiches. Mit einem Satz sprang er zurück und keuchte auf. Etwas Rotes, Nasses schlug ihm ins Gesicht. Er wischte es hastig ab. Unversehens lichtete sich der Nebel und Toraks Herz stand beinahe still. Der Pfad war versperrt, überspannt von einem albtraumhaften Geflecht aus fleischigen, glitzernden Windungen. Er atmete Blutgeruch ein, sah unförmige, sich schlängelnde Maden. Er war in ein Netz gestolpert. Ein Netz aus Eingeweiden.
    Mit leisem Winseln suchte er sein Heil in der Flucht und rieb sich dabei unablässig und wie besessen über das Gesicht, dort, wo ihn das Netz berührt hatte. Mit einem Satz sprang er platschend ins Moor, sank bis zu den Knien ein, und ein Lachen raschelte durchs Röhricht.
    Er war wieder an jenem unheimlichen Steg.
    »Nein«, flüsterte er. »Nicht dort hinein.«
    Torak lief wie gehetzt nach Süden. Das sumpfige Bett des Axtknaufflusses war rasch überquert, und Wolf, dessen große Pfoten kaum einsanken, gesellte

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