Chronik der dunklen Wälder - Schamanenfluch: Band 4 (German Edition)
aus dem Korb, und Seshru zeigte ihr den Kiesel. Als ihre gespaltene Zunge vorzuckte, um ihn zu schmecken, hielt Torak den Atem an. Er hatte diese Zunge auf seiner Haut gespürt.
»Du wolltest es so haben, Seelenwanderer«, hauchte die Natternschamanin. »Du hast dich in meine Macht begeben. Du hast den Stein zurückgelassen, damit ich ihn finde.«
»Nein«, flüsterte er.
Ihre Augen durchbohrten seine Seelen. »Warum hast du ihn denn sonst gemacht?«
»Als … als Geschenk«, stammelte er.
»Für wen?«
»Für… ein Mädchen.«
»Warum hast du ihn zurückgenommen?«
»Um ihr zu sagen, dass ich weggegangen bin.« Er versuchte, Renns Bild aus seinen Gedanken zu vertreiben, aber die Natternschamanin war schneller.
»Ihr Name ist Renn«, sagte sie. »Wer ist sie?«
Mit gewaltiger Anstrengung riss er seinen Blick von ihrem los – und richtete ihn ungewollt auf die Axt aus Grünstein.
Seshru verstand sofort. »Fin-Kedinn. Sie ist Fin-Kedinns Kind.«
»Das seines Bruders.«
Einen Augenblick herrschte Stille. Dann drehte ihm die Natternschamanin den Rücken zu, setzte sich hin und blickte auf den See, während sich die glatten Schlangenleiber in ihrem Schoß umeinander wanden.
»Das Kind seines Bruders«, sagte sie tonlos. »Natürlich. Er kümmert sich um das Kind seines Bruders.«
Torak konnte es nicht ertragen, dass sie von Renn sprach.
Aber Renn ist weit weg, sagte er sich. Renn ist in Sicherheit.
»Nein.« Seshru drehte sich wieder um. »Sie ist hier auf dem See. Ich habe sie in einem Boot gesehen, ein großer Junge mit gelbem Haar begleitet sie. Aber diese beiden können dir jetzt auch nicht mehr helfen.«
Sagte sie die Wahrheit? Suchten Renn und Bale nach ihm oder war das nur eine ihrer Lügen.
»Warum willst du mich lebend?«, fragte er. »Was willst du überhaupt?«
»Du weißt, was ich will.«
»Meine Macht. Du willst der Seelenwanderer sein.«
»Deine Macht besitze ich bereits. Ich kann deine Seele wandern lassen, wann ich will. Ich will mehr. Ich will – den Feueropal.«
Den Namen aus ihrem Mund zu hören … Ihre Stimme hauchte Leben in das Bild in seinem Geist. Er sah das pulsierende rote Herz des Steines.
»Er … er ist im Eis verloren gegangen«, sagte er.
»Lüg mich nicht an«, sagte Seshru. »Ich bin Schamanin, glaubst du nicht, dass ich meine Quellen habe? Als dein Vater ihn zerschlagen hat, blieben drei Stücke übrig – drei ! Eins behielt der Robbenschamane, eins wurde vom schwarzen Eis verschluckt. Bleibt noch eins. Das muss dir dein Vater doch erzählt haben, bevor er starb.«
»Nein.«
»Er hat es versteckt. Er hat es versteckt, und als er starb, hat er dir gesagt, wo …«
»Nein …«
»Im Todeskampf, als sein Leben aus ihm herausblutete, weil seine Eingeweide von dem Dämonenbären herausgerissen waren –«
»Nein!«, schrie Torak.
Sie riss sich den Nachtschattenkranz von der Stirn und schleuderte ihn ins Feuer. Blauer Rauch kräuselte empor, beißend und betäubend.
Hilflos sah Torak dabei zu, wie sie einen Beutel an ihrer Brust öffnete und ihren Finger hineintauchte. Er versuchte zu widerstehen, aber sie hielt sein Kinn fest und schmierte ihm einen schwarzen stinkenden Schlamm auf die Lippen. Dann führte sie die beiden Nattern, die dunkle in der einen Hand, die silberne in der anderen, an ihren Mund und flüsterte einen Zauber. Schließlich legte sie beide Schlangen an seine Brust.
Er wagte nicht zu atmen. Er spürte, wie sie kühl und glatt über ihn glitten, spürte die winzigen Kontraktionen, mit denen ihre Schuppen sich an seiner Haut festhielten. Er spürte ihre Zungen auf der Haut. Seshru beobachtete sein Entsetzen mit dem leidenschaftslosen Blick einer Schlange, die ihr Opfer belauert.
»Dein Körper kann sich nicht bewegen, aber deine Seelen schon. Deine Seelen gehen überall hin, wo ich sie hinschicke. Deine Seelen tun alles, was ich will.«
Der schwarze Schlamm schmeckte bitter. Lichter blitzten hinter seinen Augen auf, wirbelnde Spiralen, sodass ihm fast schlecht wurde.
Er sah die dunklen Haare der Natternschamanin wie Schlangen um ihr weißes Gesicht fließen. Er spürte, wie ihm seine Seelen aus dem Mark gerissen wurden. Er schrie …
… stumm und seine schwarze Zunge züngelte hervor und schmeckte die Luft.
Das Letzte, was er hörte, bevor er zur Schlange wurde, war die Stimme der Natternschamanin, die ihm befahl, Renn zu suchen.
Kapitel 29
Schneller als ein Gedanke glitt die Schlange über die Felswand.
Sie genoss den
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