Chronik der dunklen Wälder - Schamanenfluch: Band 4 (German Edition)
28
»Wie erwachsen du seit unserer letzten Begegnung geworden bist!«, sagte die Natternschamanin mit ihrem schiefen, spöttischen Lächeln.
Ihr Haar war ein Umhang aus Dunkelheit, und die Natterntätowierung schien auf ihrer hohen weißen Stirn zu pulsieren, aber ihre schönen Lippen waren schwarz.
Torak konnte sich nicht mehr bewegen. Er war nicht gefesselt, doch seine Glieder weigerten sich einfach, ihm zu gehorchen. »Die Krähenbeeren«, sagte er. »Du hast sie vergiftet.«
Ihre Augen glitzerten. »Aber ich will dir nicht wehtun.«
»Weshalb sollte ich dir glauben?«
»Weil ich es sonst längst getan hätte. Ich hätte dir das Herz herausschneiden und essen können. Nicht einmal deine Wölfe hätten dir hier oben zu Hilfe eilen können.« Sie beugte sich nieder und flüsterte ihm ins Ohr: »Aber ich will dich lebend!«
Sein Herz schlug so heftig, dass sie es hören musste. »Warum?«, fragte er.
Sie lachte nur und leckte sich mit ihrer spitzen schwarzen Zunge über die Lippen.
Als sie sich umdrehte, um das Feuer zu schüren, floss ihr Umhang aus geschmeidigem Hirschleder wie Wasser um ihren Körper. Er war mit Schlangenhaut eingefasst, die ihre nackten Arme und Knöchel umspielte und bei jeder Bewegung schimmerte. Torak konnte den Blick nicht von ihr abwenden. Angst und Ekel brannten in ihm – diese Frau war das Böse, sie hatte dazu beigetragen, dass sein Vater gestorben war –, aber er konnte nicht wegsehen.
Er sah zu, wie sie mit der Hand über den Deckel eines Korbes fuhr und ein geheimnisvolles Rascheln darin ertönte. Er sah zu, wie sie aus Kräutern eine Girlande wand und sie sich auf die Stirn setzte, wie sie lange, gewellte Streifen auf ihre Arme malte: grüne Schlangen, die auf der bleichen Haut schlängelnd zum Leben erwachten. Fasziniert und abgestoßen zugleich sah er ihr zu – und sie lächelte ihr wissendes Lächeln, genoss ihre Macht.
Mit einem gegabelten Stecken ließ sie einen Stein aus dem Feuer in einen Behälter aus Rohleder fallen. Es zischte laut. Dampf stieg auf.
»Was ist das?«, fragte er.
Ihre Oberlippe kräuselte sich. »Heißes Wasser. Ich bin Heilerin gewesen, schon vergessen?«
Sie wrang ein Stück Leder aus, benetzte seine Brust und legte danach eine kühlende Salbe auf. Es fühlte sich herrlich an. Der Schmerz war verflogen.
»Jetzt eitert die Wunde nicht mehr«, sagte sie. »Ich brauche sie nicht mehr, um dich an mich zu binden. Obwohl es ebenso gut wirkt wie eine Beschwörung.«
Wie eine Beschwörung. Diese Stimme, die er gehört hatte, war also nicht die Renns, sondern die der Natternschamanin gewesen.
»Was willst du?«, fragte er mit zusammengepressten Zähnen.
Sie erhob sich, ging zum Klippenrand und blickte hinab. »All diese winzigen Kreaturen«, murmelte sie. »Die Wölfe, die ängstlichen kleinen Ottermenschen. Sie gehören jetzt mir. Sie müssen mir gehorchen – oder ich lege den See trocken.«
Torak dachte an die Kiefernnadeln am schwarzen Strand. Der Wasserspiegel des Sees sank. Er versuchte sich zu rühren, brachte aber nur ein Kopfrucken zustande.
Die Natternschamanin berührte den grünen Lehm auf ihrem Arm. »Das hier! Das hat Macht! Wenn ich es trage, sehen diejenigen, die mir begegnen, lediglich eine grün maskierte Frau: krank, ängstlich, genau wie sie. Nicht einmal dein Wolf erkennt meinen Geruch.«
Als hätte sie Wolf gerufen, erklang ein Heulen von unten. Komm herunter!
Seshru lächelte. »Jetzt kennt er mich! Ich habe meine Maske fallen lassen. Er weiß, wer ihn besiegt hat!«
Torak sah, dass die Girlande, die sie trug, aus Nachtschatten geflochten war, der an einem einzigen Stängel dunkelrote Blüten sowie grüne und reife scharlachrote Beeren trug: ein höchst mächtiges Kraut, von dem jeder Bestandteil tödlich war, so wie die Natternschamanin selbst. Sie war zu stark. Für einen Augenblick übermannte ihn erneut die Verzweiflung.
Er hörte Flügel schlagen. Rip und Rek ließen sich auf einem Felsbrocken hinter ihr nieder.
»Ah, aber du bist stark!«, sagte Seshru, ohne die Vögel zu bemerken. Sie kniete sich neben ihn, nahm ihm das Stirnband ab und schob ihm zärtlich die Haare aus der Stirn. »Eine Seele zu haben, die in einen Eisbär gewechselt ist!« Sie streichelte seine Schläfe. »Und obendrein so mutig. Das Zeichen der Seelenesser herauszuschneiden. Wer hat dir das Ritual gezeigt? Es muss ein sehr mächtiger Schamane gewesen sein.«
Sie wollte ihm schmeicheln, aber das würde ihr nicht gelingen. Trotzdem
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