Chronik der dunklen Wälder - Schamanenfluch: Band 4 (German Edition)
Duft von Grillen und Farn. Sie spürte Ameisen und Spitzmäuse umherkriechen. Luft, Blätter, Wasser, Beute, Licht – sie schenkte ihnen keine Beachtung. Ihre Gebieterin hatte sie nach reicherer Beute ausgesandt.
Die Steine glühten in der Wärme der untergegangenen Sonne und die Schlange nahm diese Wärme im Vorübergleiten in sich auf. Geräuschlos glitt sie von den Steinen herunter ins Wasser und nahm die Kühle des Sees in sich auf.
Die Schlange spürte den Unterschied, doch das war alles, was sie spürte. Weder Freude noch Unbehagen, weder Eifer noch Furcht. Sie kannte diese Gefühle, weil sie sie auf der sich wehrenden Beute schmeckte und auf den Bergen warmen Fleisches, die den Erdboden erschütterten – aber das waren keine Schlangengefühle.
Das machte die Seelen der Schlange sehr stark: reine Zielstrebigkeit, von Gefühlen ungetrübt. Torak hätte nicht vermutet, dass so viel Kraft in einem so schlanken Körper stecken könnte. Seine eigenen Seelen waren vom Gift geschwächt ; er konnte die Schlange nicht für seine Zwecke benutzen. Er konnte nur in ihrem kleinen kalten Gehirn zittern, während sie den See eilig durchpflügte, tödlich wie ein Pfeil.
Er spürte kühles Wasser und Seegras über seine Schuppen gleiten. Seine lidlosen Augen nahmen das Aufblinken und Davonhuschen von Fischen wahr. Dann war er wieder draußen in der Wärme, der Geruch von Kiefern lag schwer auf seiner Zunge. Der Sand war rau, er schob sich mit seinen Schuppen darüber hinweg. Als er seinen Schlangenkopf hob, nahm er Rabengeruch wahr.
Der warme Vogel stieß auf ihn herab, seine Schreie erst von der Luft gedämpft, dann durchdringend laut, als er mit einer dumpfen Erschütterung auf dem Boden aufsetzte. Die Schlange flitzte in ein Loch, bereit zu kämpfen.
Er spürte, wie der Rabe auf das Loch zuhüpfte. Der Rabe roch ihn, kam aber nicht an ihn heran. Frustriert pickte er in die Baumwurzel, die die Schlange schützte. Der Boden bebte, als er davonflog.
Als die Bedrohung vorüber war, kroch die Schlange wieder hervor. Torak glitt über die moosige Erhebung eines umgestürzten Baumstamms, schlängelte sich unter Farnkraut, das höher als Bäume aufragte. Schließlich bekam er Witterung von dem schlummernden Männchen, dahinter der süßere Duft des Weibchens.
Toraks Seelen versuchten sich zu befreien, die Schlange in seinem Sinne zu beeinflussen, aber sie glitt unerbittlich weiter. Und jetzt, als er sich unter Blättern hindurch- und über Steine hinwegschob, spürte er die Wärme schlafenden Fleisches in Wellen auf sich zukommen.
Zubeißen, zubeißen. Die Stimme seiner Gebieterin schwoll in seinem Schlangenhirn an und ab.
Wieder versuchte der Teil von ihm, der Torak war, das Tier zur Umkehr zu zwingen, aber seine Muskeln wollten ihm nicht gehorchen.
Zubeißen, zubeißen.
Seine Windungen umschlangen einen nackten Fuß, glitten eine bleiche Wade hinauf, über weiches Elchleder und grobes Knüpfgras in ein Band aus warmen Rabenfedern, die sich im Schlaf hoben und senkten. Sein Schlangenkopf zuckte von den Markierungen auf dem Handgelenk zurück, die den seinen ähnlich und dennoch anders waren, aber dahinter witterte seine Zunge ungeschützte Haut.
Nein!, schrie Torak im kalten Schlangenhirn auf. Nein! Das ist Renn!
Die Schlange klappte ihr Maul weit auf – ihre Fänge schoben sich aus dem Oberkiefer und zeigten nach unten … sie füllten sich mit Gift, waren bereit zuzuschlagen …
Zubeißen, zubeißen.
Torak erwachte.
Über ihm wirbelten Wolken, stießen ihn auf einem Meer der Übelkeit umher. Nach und nach wurde er sich der Frühlingsgeräusche bewusst. Neben ihm saß reglos die Natternschamanin. Ihr Gesicht war bleich wie Knochen. Die Nattern waren nicht mehr da.
»Ist es vollbracht?«, fragte sie.
Er nickte.
Sie atmete aus. Dann erhob sie sich und ließ den Blick über den See schweifen. Als sie sich wieder umdrehte, erkannte er, dass sie ihn nicht sah, sondern durch ihn hindurch auf die Kraft blickte, die er ihr geben konnte.
»Bis jetzt«, sagte sie, »habe nicht einmal ich die Macht des Seelenwanderers begriffen.« Sie kniete sich wieder neben ihn, und ihr langes Haar berührte seine Brust, als sie ihr Gesicht dicht vor das seine hielt. »Denk nur, was ich mit einer solchen Macht alles vollbringen kann! Ich kann die dunkelsten Geheimnisse erfahren. Ich kann alle, alle unter meinen Willen zwingen!«
Torak schloss die Augen. Das Wirbeln und Kreiseln wurde nur noch schlimmer. Er versuchte, sich
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