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Chronik der dunklen Wälder - Schamanenfluch: Band 4 (German Edition)

Chronik der dunklen Wälder - Schamanenfluch: Band 4 (German Edition)

Titel: Chronik der dunklen Wälder - Schamanenfluch: Band 4 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Paver
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kratzten über Granit und er fiel jaulend wieder zurück. Dass Rip und Rek auf einem Felsvorsprung saßen und ihn auslachten, machte die Sache nicht besser.
    Kehr um!, wies ihn Torak an. Ich bin bei Licht wieder am Lagerplatz! Er ärgerte sich, dass er ihm nicht erklären konnte, dass er bald zurück sein würde, aber in der Wolfssprache gibt es keine Zukunft.
    Als er abermals nach unten sah, war Wolf verschwunden.
    Torak kletterte, jetzt rasch müder werdend, weiter. Er kam an den in den Stein gemeißelten Wesen vorbei, die er schon einmal zuvor gesehen hatte. Er war ihnen zu nah, um mehr als Einzelheiten erkennen zu können – die lange, gesenkte Nase eines Elchs, die gespaltene Zunge einer Schlange –, aber er nahm den nassen Lehmgeruch der Gestalten wahr und passte auf, dass er sie nicht berührte.
    Schließlich zog er sich über den oberen Rand.
    Nur dass er nicht ganz oben war, sondern lediglich in einer felsigen Mulde, von der ein Teil der Klippe abgebrochen war.
    Vor ihm erstreckte sich ein leuchtend grüner Teich, so hell wie Birkenblätter im Sonnenlicht. Um den Teich herum prangten purpurfarbene Orchideen und schwarze Krähenbeeren im grünen Lehm: dem gleichen Lehm, den er auf den Gesichtern der Otter gesehen hatte. Wie schon auf der Steilwand drängten sich auch auf den umgebenden Felsbrocken steinerne Wächter. Steinelche erhoben Köpfe mit mächtigem Geweih, steinerne Wasservögel flogen über steinerne Himmel oder tauchten nach steinernen Hechten, die für alle Zeiten unerreichbar für sie blieben.
    Die Quelle selbst konnte Torak nirgendwo sehen, aber er hörte ihr Echo und spürte ihre Kraft. Sie fühlte sich weder gut noch böse an, denn sie hatte schon existiert, lange bevor es Gut und Böse gab.
    Er wusste nur zu gut, dass er die richtigen Rituale nicht kannte, und spürte, wie ihn das Verborgene Volk beobachtete. Er neigte sich zur Teichoberfläche und bot das an, was er mitgebracht hatte: einen Auerhahnflügel, eingeschlagen in Klettenblätter, den er, für den Fall, dass Rip und Rek zurückkamen, unter einem Stein vergrub.
    Dann kniete er nieder, schöpfte mit den Händen Wasser und badete seine Brust damit, wobei er die Quelle bat, ihn zu heilen. Das Wasser war eisig und sein sauberer, schneidender Biss auf der brennenden Wunde überaus wohltuend.
    Er überlegte, ob er etwas von dem grünen Lehm auf die Wunde schmieren sollte, fand aber, dass er es nicht riskieren sollte. Er hatte den Lehm lediglich bei den Ottern gesehen und auf den Pfosten im Schilf. Der Lehm gehörte zum See. Er, Torak, stammte aus dem Wald. Es kam ihm nicht richtig vor.
    Rip ließ sich mit einem lauten »Rap Rap Rap!« neben ihm nieder und Torak schreckte zusammen. »Rap Rap Rap!«, krächzte Rek und ließ sich neben Rip nieder. Sie plusterte aufgeregt die Federn auf. Die winzigen Wassertropfen auf ihren Flügeln glitzerten in den letzten Sonnenstrahlen so dunkelrot wie Blutstropfen.
    »Was habt ihr denn?«, fragte Torak. »Wollt ihr ein paar Beeren?«
    Zu seiner großen Verwunderung weigerten sie sich zu essen. Sie hackten nur wütend auf die Krähenbeerenbüsche ein und verstreuten überall kleine Zweige. Torak scheuchte sie weg, bevor sie noch mehr Schaden anrichten konnten.
    In der Welt weiter unten blökte ein Elch und die Wölfe begannen mit ihrem Abendgeheul.
    Torak gähnte. Seine Brust fühlte sich mit einem Mal herrlich taub an und eine unwiderstehliche Schläfrigkeit befiel ihn. Er rollte sich im Farn zusammen und schloss die Augen.

    Mond und Sterne kreisten über ihm, zogen silbrige Feuerspuren am dunkelblauen Himmel. Ihm war ein bisschen schwindelig und er war müde, so furchtbar müde.
    Er vernahm das Zischen und Knacken glühenden Holzes, der Frühling gurgelte ein Lied ohne Anfang und Ende. Dann fiel eine weitere Stimme ein, murmelte Worte, die er nicht verstand. Es hörte sich wie Renn an.
    Es war Renn.
    Sie saß mit dem Rücken zu ihm und kümmerte sich um das Feuer. Im Halbdunkel machte er ihre blassen Arme und ihr langes dunkles Haar aus.
    Um sich zu vergewissern, dass sie echt war, streckte er schwerfällig eine Hand aus und packte ihr Handgelenk.
    Ihre Knochen waren zierlich und leicht. Ja. Echt.
    »Ich wusste, dass du mich findest«, sagte er. Seine Worte drückten nicht einmal ansatzweise aus, was er empfand.
    Ihre Haut war weich und warm, er wollte sie nicht loslassen.
    Weich.
    Keine Zickzack-Tätowierungen.
    »Ich wusste, dass ich dich finde«, sagte Seshru, die Natternschamanin.

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