Chronik der dunklen Wälder - Seelenesser: Band 3 (German Edition)

seine Clantätowierung gemalt hatte. Ob er überhaupt wusste, dass sie ihn aufbewahrt hatte? Außerdem war in dem Beutel der Hühnerknochen, mit dem man Wolf herbeirufen konnte. Am liebsten hätte Renn einfach hineingeblasen, aber auch wenn Wolf sie hörte, konnte er so eine weite Strecke nicht schwimmend bewältigen. Sie brächte ihn nur unnötig in Gefahr.
    Ihr fiel wieder ein, wie ihr Torak im vergangenen Herbst das Heulen hatte beibringen wollen, für den Fall dass sie die Wolfspfeife einmal verlor. Sie hatte beim besten Willen nicht ernst bleiben können, bis Torak schließlich wütend davongestapft war. Als sie versucht hatte, ihn mit einem Heulruf zur Umkehr zu bewegen, hatte es so kläglich geklungen, dass er selber lachen musste, bis ihm die Tränen kamen.
    Sie versuchte sich an einem zittrigen Geheul. Es war nicht laut genug, um Wolf zu erreichen, aber es munterte sie ein wenig auf.
    Falls doch noch mehr Möwen kamen, wollte sie vorbereitet sein. Sie überprüfte die Federn an ihrem besten Pfeil und holte alle Sehnenfäden aus ihrem Nähbeutel, knotete sie aneinander und band die Schnur an den Pfeilschaft. Dann ölte sie Bogen und Bogensehne, indem sie beides mit dem Robbenfleisch einrieb, und widerstand der Versuchung, das Fleisch anschließend hinunterzuschlingen. Dabei glaubte sie zu sehen, wie ihr Fin-Kedinn die Hand führte. Er hatte den Bogen seinerzeit für sie angefertigt, und die Waffe verdankte ihre Widerstandsfähigkeit nicht nur der Eibe, aus deren Holz sie hergestellt war, sondern auch dem Geber selbst. Der Bogen würde seine Besitzerin nicht im Stich lassen.
    Den Pfeil schon auf der Sehne, schob sie den Blendschutz in die Stirn und kauerte sich wartend hin.
    Der Dämon hinter ihr scharrte mit den Klauen und wollte sie ablenken. Renn schürzte verächtlich die Lippen. Pah! Fin-Kedinn hatte sie gelehrt, wie man sich konzentriert. Wenn sie auf der Jagd war, konnte nichts sie ablenken. Genau wie sich Torak nicht ablenken ließ, wenn er Fährten las.
    Sie vernahm die eigentümlich wiehernden Rufe von Alken. Ein ganzer Schwarm kam angeflogen.
    Zweifel stiegen in ihr auf. Sie sind zu weit weg, die Schnur ist zu kurz. Deine Hände sind halb erfroren, du kannst nicht vernünftig zielen … Sie kümmerte sich nicht um die Einflüsterungen des Dämons und konzentrierte sich ganz auf die Vögel.
    Wie alle Alke flogen sie ziemlich niedrig, schlugen kräftig mit den kurzen schwarzen Flügeln. Renn suchte sich einen Vogel aus, hielt den Blick unbeirrt darauf gerichtet und wartete den Augenblick zwischen zwei Windböen ab.
    Der Pfeil flog zielsicher geradeaus, der Alk klatschte ins Wasser. Mit einem Jubelruf holte Renn die Schnur ein.
    Sie hatte den Vogel an der Schwanzwurzel erwischt. Das Tier zappelte noch. Renn sprach leise eine Dankesformel, schob die Hand unter den Flügel und hielt das wie rasend pochende Herz fest, bis es stillstand. Dann schnitt sie die Flügel ab und opferte den einen der Meermutter und den anderen dem Wind, um sich zu bedanken, dass die beiden sie bis jetzt am Leben gelassen hatten. Den Kopf warf sie für ihren Clanhüter ans andere Ende der Eisscholle und bedankte sich bei ihrem Bogen, indem sie ihn mit der fettigen Vogelschwarte einrieb.
    Zu guter Letzt schlitzte sie dem Vogel den Bauch auf, holte das warme rote Herz heraus und stopfte es in den Mund. Es schmeckte tranig und einfach köstlich und spendete ihr die Kraft des Vogels.
    Renn rupfte den Alk, behielt die Federn für Pfeile und band sich den Rumpf an den Gürtel. Der Dämon hatte sich verzogen. Renn spuckte schmunzelnd eine Alkdaune aus. Offenbar war es ihm lieber, wenn sie verzweifelt und hungrig war, statt wie jetzt satt und trotzig.
    Ein Rabe stieß herab, schnappte sich den Alkkopf und flog davon. Renn war auf einmal ungeheuer stolz. Raben gehören zu den wenigen Vögeln, die zäh genug sind, um die Winter im Hohen Norden zu überstehen. Renn war stolz darauf, ihre Nachfahrin zu sein, ihrer Sippe anzugehören.
    Sie nahm die Kapuze ab und rieb sich Schnee in die Haare, um Tanugeaks schwarze Farbe endgültig auszuwaschen. Sie war wieder sie selbst – Renn vom Rabenclan.

    So gespannt hielt sie nach der Küste Ausschau, dass sie den ersehnten Anblick beinahe verpasst hätte.
    Eben drehte sich die Eisscholle noch bedächtig um sich selbst, im nächsten Augenblick gab es einen solchen Ruck, dass Renn beinahe ins Wasser gepurzelt wäre.
    Als sie das Gleichgewicht wiedergefunden hatte, erkannte sie, dass sie in die