Chronik der dunklen Wälder - Seelenesser: Band 3 (German Edition)
nichts ahnende Robbe neben ihrem Atemloch sonnte, während sich der Eisbär gegen den Wind anpirschte. Der Bär tappt lautlos näher, sucht immer wieder Deckung. Er ist geduldig. Er hat es nicht eilig. Irgendwann döst die Robbe ein. Der Bär duckt sich zum Sprung… Die Robbe ist tot, ehe sie begreift, wie ihr geschieht.
Die Raben waren lärmend zu ihrem Festschmaus zurückgekehrt. Offenbar waren sie zu dem Schluss gekommen, dass ihnen Torak nichts Böses wollte.
Wenn der Bär noch in der Nähe war, würden sich die Vögel doch bestimmt nicht an den Kadaver heranwagen, sprach sich Torak Mut zu. So wie das Gekrächz klang, war es ein ganzer Schwarm, dazu kam noch der Fuchs. Das konnte nur bedeuten, dass der Bär viel Fleisch übrig gelassen hatte. Inuktiluk hatte gesagt, wenn ein Eisbär reichlich Beute macht, frisst er nur die Speckschwarte und verschmäht den Rest.
Aber wenn der Bär nun wieder Hunger bekam? Wenn er Torak in ebendiesem Augenblick belauerte?
Da flog der Rabenschwarm auf. Etwas hatte die Vögel verscheucht.
Torak griff mit wild klopfendem Herzen in seine Jacke und zückte das Messer seines Vaters.
Er stellte sich vor, wie sich der gewaltige Bär anschlich, auf riesigen, zottigen Tatzen lautlos einhertappte.
Torak stand unbeholfen auf. Die Stille war ohrenbetäubend. Er machte sich bereit, den Weißen Tod zu empfangen.
Wolf warf ihn rücklings in den Schnee und leckte ihm zärtlich das Gesicht.
Wolf kannte nichts Schöneres, als seinen Rudelgefährten zu überraschen. Ganz gleich, wie oft er sich heimlich an ihn heranschlich, Groß Schwanzlos hörte ihn nicht kommen, und Wolf wurde das Spielchen niemals leid: das Anpirschen, Anspringen und die anschließende Balgerei.
Spielerisch zuschnappend kletterte er auf seinem Rudelgefährten herum und wedelte mit dem gekappten Schwanz, an den er sich inzwischen gewöhnt hatte. Am liebsten hätte er seine Freude laut herausgeheult! Alle Gedanken an Dämonen, an schlechte Schwanzlose und Fremdwölfe waren verjagt. Nachdem er sich so lange auf engstem Raum hatte zusammenkauern müssen, konnte er endlich wieder ungehindert umherlaufen und -springen. Konnte das Weiche Weiße Kalt unter den Pfoten und frischen Wind im Fell spüren. Konnte mit seinem Rudelgefährten spielen!
Wie so oft, wenn Wolf ihn aus dem Hinterhalt ansprang, war Groß Schwanzlos zugleich erfreut und verärgert. Aber außerdem bedrückte ihn etwas, das spürte Wolf.
Wo war das Weibchen, ihre Rudelgefährtin? Als die beiden in der schwimmenden Haut davongefahren waren, war sie doch noch da gewesen. War sie im Großen Nass verloren gegangen?
Außerdem bewegte sich Groß Schwanzlos sonderbar unbeholfen. Nach der ersten freudigen Begrüßung hatte er sich Wolfs Schnauze ungeschickt genähert, sie verfehlt und ihm stattdessen übers Ohr geleckt. Merkwürdig. Jetzt fuchtelte er mit der Vorderpfote und versetzte Wolf einen derben Nasenstüber. Wolf begriff gar nichts mehr. Er hatte doch nichts angestellt!
Er machte die Vorderläufe lang und forderte Groß Schwanzlos zum Spielen auf.
Groß Schwanzlos beachtete ihn nicht.
Wolf winselte gekränkt und sah seinen Rudelgefährten fragend an.
Groß Schwanzlos blickte starr – ja, starr – an Wolf vorbei.
Wolf wurde unruhig. Der starre Blick konnte nur bedeuten, dass er Groß Schwanzlos furchtbar verärgert hatte. Vielleicht hatte er ja irgendetwas verkehrt gemacht, ohne es zu ahnen.
Wolf hatte eine Eingebung. Mit einem Satz war er bei dem toten Fischhund, verscheuchte die Raben, biss ein Stück aus dem Kadaver heraus, rannte zurück und warf Groß Schwanzlos den Brocken vor die Füße. Dann sah er ihn wieder erwartungsvoll an. Da! Komm, wir spielen Fangen damit!
Groß Schwanzlos rührte sich nicht. Er schien gar nichts zu merken.
Wolf wagte sich näher heran.
Groß Schwanzlos streckte die Vorderpfote aus und streichelte ihm ungeschickt die Schnauze.
Wolf musterte das geliebte felllose Gesicht. Die schönen Wolfsaugen waren verkniffene Schlitze, etwas Nasses rann heraus. Wolf schnupperte vorsichtig daran. Es roch gar nicht gut. Unschlüssig leckte er seinem Rudelgefährten über die Augen.
Groß Schwanzlos schluckte, dann vergrub er das Gesicht in Wolfs Nackenfell.
Um ihn zu trösten, rieb Wolf seine Witterung in den Überpelz an Groß Schwanzlos’ Schulter und schob behutsam den Kopf unter die pelzige Pfote seines Rudelgefährten.
Wolf wartete, bis sich Groß Schwanzlos schwankend auf die Hinterläufe gestellt hatte, dann tappte
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