Chronik der dunklen Wälder - Seelenesser: Band 3 (German Edition)
nicht sehen und daher nicht erkennen, ob er nur eine Hand oder zwei Schritt breit war. Sich hinzuknien und die Kanten zu betasten, war zu gefährlich, dabei konnte man einbrechen. Torak musste darauf vertrauen, dass Wolf, der mühelos drei Schritt weit springen konnte, bedacht hatte, dass sein Rudelgefährte in dieser Hinsicht benachteiligt war.
Wieder ertönten Gebell und ungeduldiges Gewinsel. Komm!
Torak holte tief Luft – und sprang.
Taumelnd landete er auf festem Grund. Wolf war sofort zur Stelle und stützte ihn. Torak sammelte seine Habseligkeiten ein, griff wieder in Wolfs Nackenfell, und weiter ging’s.
Obwohl ihn Wolf immer wieder ungeduldig anstupste, musste Torak am Nachmittag eine Verschnaufpause einlegen. Während Wolf ruhelos im Kreis lief, hockte Torak sich hin und sägte mit dem Messer kleine Stücke von dem inzwischen gefrorenen Fleisch ab. Seinen Augen ging es deutlich besser, inzwischen konnte er sogar das Fleisch erkennen, jedenfalls hob es sich als kräftig roter Fleck vom verschwommen rosafarbenen Untergrund ab. Torak tastete nach seinem Blendschutz und setzte ihn auf.
Zu seiner Verwunderung knurrte Wolf dumpf.
Vielleicht missfiel ihm der Blendschutz, weil man damit einer Eule ähnelte.
»Was ist los?«, fragte Torak matt. Um Wolfssprache zu benutzen, war er zu erschöpft.
Wolf knurrte noch einmal. Nicht feindselig, aber beunruhigt. Vielleicht lag es doch nicht an dem Blendschutz. Vielleicht behagte es ihm nicht, dass Torak Fleisch dabeihatte, weil das sämtliche Eisbären im Umkreis von zwei Tagesmärschen anlockte. Aber wovon sollte sich Torak sonst ernähren? Anders als Wolf war er nicht in der Lage, eine halbe Robbe auf einmal zu verschlingen und anschließend tagelang ohne Nahrung auszukommen.
Ein ungeduldiger Stups. Komm endlich!
Torak stand seufzend auf.
Der Tag verstrich. Je tiefer die Sonne sank, desto kälter wurde es. Irgendwann konnte Torak keinen Fuß mehr vor den anderen setzen. Er entdeckte einen Schneehügel, höhlte ihn mit dem Messer halbwegs aus, legte den einen Schlafsack auf den Boden und kroch in den anderen.
Wolf schlüpfte mit hinein und schmiegte sich eng und wunderbar warm an ihn. Zum ersten Mal seit Tagen fühlte sich Torak geborgen. Wenn Wolf bei ihm war, konnten sich ihnen weder Dämonen noch Eisbären unbemerkt nähern. Wolfs Barthaare kitzelten ihn wie die Flügel eines Nachtfalters an der Wange und er schlummerte ein.
Als er wieder aufwachte, herrschte tiefe Dunkelheit. Wolf war fort.
Torak war sicher, dass er nicht lange geschlafen hatte, und als er ins Freie kroch, erblickte er über sich weiten, schwarzen, mit glitzernden Sternen gesprenkelten Himmel.
Er konnte wieder sehen! Er war nicht mehr schneeblind!
Den Kopf in den Nacken gelegt, stand er da und ergötzte sich am Anblick der Sterne.
Da sauste ein leuchtender Speer quer über den Himmel. Grüne Pfeile schossen empor, und mit einem Mal wogten blassgrüne Wellen über die tiefschwarze Fläche, leuchteten auf, vergingen und leuchteten von Neuem auf.
Torak lächelte. Endlich. Der Erste Baum. Er war in der Finsternis des Ursprungs gewachsen und hatte alles zum Leben erweckt, Fluss und Fels, Jäger und Beute. Im tiefsten Winter kehrte er oftmals zurück, und wer ihn sah, dem wurde leichter ums Herz und er fasste neuen Mut. Torak dachte an Fa. Ob er seine Todesreise inzwischen vollendet hatte und wohlbehalten auf einem Ast saß? Vielleicht schaute er ja in ebendiesem Augenblick auf seinen Sohn herab.
In weiter Ferne rief eine Eule.
Torak überlief es kalt.
Dann – deutlich näher – hörte er etwas übers Eis gleiten.
Er duckte sich und zückte sein Messer.
»Lass es fallen«, befahl Thiazzi.
»Wo ist der Feueropal?«
»Ich habe ihn nicht.«
Ein Schlag an die Schläfe warf ihn zu Boden. Er fiel mit der Brust auf einen Eishöcker und rang nach Luft.
»Wo ist er?«, schnauzte ihn der Eichenschamane an und riss ihn wieder hoch.
»Ich … habe ihn nicht!«
Die gewaltige Faust holte abermals aus, aber da kam Nef angehumpelt und hielt Thiazzis Arm fest. »Lass ihn am Leben, sonst finden wir den Stein nie!«
»Ich prügle es schon aus ihm raus!«, brüllte der Eichenschamane.
»Nicht, Thiazzi!«, rief Seshru. »Du bist stärker, als du selber weißt. Du bringst ihn um!«
Der Eichenschamane murrte, ließ Torak aber los.
Der Junge lag, nach Luft ringend, da und versuchte zu begreifen, wie ihm geschah. Nachdem Wolf unerklärlicherweise verschwunden war, hatten sich die Seelenesser
Weitere Kostenlose Bücher