Chronik der dunklen Wälder - Seelenwanderer: Band 2 (German Edition)
wider.
»Was willst du von mir? Komm endlich raus und zeig dich! Was willst du? «
Regen pladderte auf die Blätter und rann ihm übers Gesicht. Das leise Klopfen eines Spechts war die einzige Antwort.
Es regnete den ganzen Morgen. Torak mochte Regen. Bei Regen war es schön kühl und man blieb von Mücken verschont. Er durchquerte die beiden angrenzenden Täler und seine Laune besserte sich. Allmählich verflüchtigte sich das Gefühl, beobachtet zu werden, auch war kein irres Geheul mehr zu hören.
Das mochte daran liegen, dass ihm der Keiler immer noch Gesellschaft leistete. Zwar bekam ihn Torak nicht zu Gesicht, doch er stieß allenthalben auf seine Spuren. Wo das Tier nach Futter gesucht hatte, war die Erde aufgewühlt, und neben einer Schlammkuhle stand eine lehmbeschmierte Eiche, an deren Stamm es sich nach einem Schlammbad ausgiebig geschubbert hatte.
Torak fand das ausgesprochen beruhigend. Er hatte einen neuen Freund gewonnen. Er überlegte, wie alt der Keiler wohl war und ob die Frischlinge vom Vortag wohl seine Jungen waren.
Am späten Nachmittag kreuzten sich ihre Wege. Sie löschten ihren Durst am selben Fluss und rasteten auf derselben schattigen Lichtung. Anschließend gingen beide auf Pilzsuche. Dabei stieß der Keiler unvermittelt ein unwirsches Grunzen aus, drängte Torak weg und zertrampelte den Pilz, nach dem sich der Junge eben hatte bücken wollen. Als Torak das rote Fruchtfleisch sah, begriff er, warum. Beinahe hätte er einen Giftpilz verzehrt, der einem essbaren Pilz zum Verwechseln ähnlich sah. In seiner übellaunigen Art hatte ihn sein Begleiter ermahnt, künftig besser aufzupassen.
Bis zum Morgen regnete es ununterbrochen. Der Wald döste unter einer Wolkendecke. Doch je weiter Torak nach Osten vordrang, desto mehr wurde ihm bewusst, warum es immer dunkler wurde: Es lag nicht nur am bedeckten Himmel, sondern auch am Wald selbst.
Torak war vom Weiten Wald daran gewöhnt, dass das Laubdach licht war und viel Sonne durchließ und der niedrigere Bewuchs zwischen den Bäumen nicht besonders dicht war, doch inzwischen hatte er die hügeligen Ausläufer des Großen Waldes erreicht. Riesige Eichen ragten vor ihm auf und verwehrten dem Eindringling mit ihren mächtigen Ästen den Zutritt. Das dichte Unterholz aus schwarzen Eiben und giftigem Schierling reichte ihm bis über den Kopf. Der Himmel war hinter einem undurchdringlichen Blätterdach verborgen.
Torak vermisste den Keiler, der schon den ganzen Tag nichts von sich hatte hören und sehen lassen. Eine leise Furcht beschlich ihn, nicht nur vor seinem Verfolger, sondern auch vor dem, was ihn erwartete.
Die alten Geschichten kamen ihm in den Sinn, die ihm sein Vater erzählt hatte. Im Großen Wald ist alles anders, Torak. Dort sind die Bäume gegenüber Fremden wachsamer, die Sippen misstrauischer. Wenn du dich jemals dort hineinwagst, sei auf der Hut und vergiss nicht, dass dort sommers der Weltgeist in Gestalt eines hoch gewachsenen Mannes mit einem Hirschgeweih durch die dunklen Täler wandelt…
Am späten Nachmittag, es regnete immer noch, rastete Torak an einem Fluss. Er hängte seine Ausrüstung in eine Stecheiche und ging seinen Wassersack auffüllen.
Im Uferschlamm entdeckte er frische Spuren. Der Keiler war vor ihm da gewesen, und es konnte noch nicht lange her sein, denn seine Spuren waren scharf umrissen, die Afterklauen tief eingedrückt. Torak war froh, seinen Freund in der Nähe zu wissen. Als er sich hinkniete und den Wassersack füllte, stieg ihm der vertraute Raukegeruch in die Nase, und er brummelte grinsend: »Hab mich schon gewundert, wo du steckst!«
Am gegenüberliegenden Ufer teilte sich der Farn und der Keiler trat heraus.
Er war völlig verändert. Die struppigen braunen Borsten waren schweißverklebt, die kleinen Augen trüb und rot gerändert.
Torak ließ den Wassersack fallen und wich zurück.
Der Keiler quiekte zornig.
Und preschte auf den Jungen los.
Kapitel 9
TORAK HASTETE zum nächstbesten Baum, als der Keiler auf ihn losgetrampelt kam.
Die Angst verlieh ihm ungeahnte Kräfte. Er schwang sich auf einen Ast und zog die Beine nach, als sich die Hauer auch schon dort in den Stamm gruben, wo eben noch sein Fuß gewesen war.
Der ganze Baum bebte und Torak grub die Fingernägel in die Rinde.
Er hockte rittlings auf dem Ast und rutschte bis zur Gabelung von Ast und Stamm zurück. Kaum zwei Spannen trennten ihn von dem wütenden Tier, aber höher konnte er nicht klettern, dafür war der Baum zu
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