Chronik der dunklen Wälder - Seelenwanderer: Band 2 (German Edition)
flauschigen Frischlinge hoben nur kurz die Rüssel.
Die jungen Blätter waren noch nicht ganz entfaltet, das Laub ließ viel Licht durch. Torak kam gut voran. Wie alle, die in den Wäldern leben, war er mit leichtem Gepäck unterwegs und trug nur bei sich, was er zum Jagen, Feuermachen und Schlafen benötigte.
Sein ganzes Leben hatte er im Wald zugebracht, war mit Fa umhergestreift, hatte irgendwo ein, zwei Nächte gelagert und war wieder weitergezogen. Sie waren nie lange an einem Ort geblieben. Das war die größte Umstellung gewesen, als er sich den Raben angeschlossen hatte. Sie wechselten nur alle drei, vier Monde den Lagerplatz.
Außerdem waren es furchtbar viele! Achtundzwanzig Männer, Frauen und Kinder. Auch Säuglinge waren darunter. Torak hatte noch nie so kleine Kinder gesehen. »Warum können die denn nicht laufen?«, hatte er sich bei Renn erkundigt, »und was machen sie bloß den ganzen langen Tag?« Renn hatte sich ausgeschüttet vor Lachen.
Damals hatte er sich über sie geärgert. Jetzt dagegen bewirkten solche Erinnerungen, dass er sie alle nur umso schmerzlicher vermisste.
Südlich der Donnerfälle verließ er das Breitwassertal und wanderte in östlicher Richtung ins nächste Tal. Dort kam es zu einer flüchtigen Begegnung mit zwei Jägern vom Weidenclan, die in Einbäumen unterwegs waren. Zum Glück hatten sie es eilig und erkundigten sich nicht nach seinem Ziel, riefen ihm nur eine Warnung zu, ehe sie stromabwärts davonruderten.
»Letzte Nacht ist ein Kranker aus unserem Lager entflohen«, sagte der eine. »Wenn du jemanden heulen hörst, lauf schnell weg. Er weiß nicht mehr, dass er ein Mensch ist.«
Der andere wiegte grimmig den Kopf. »Diese verfluchte Krankheit. Wo kommt sie bloß her? Als wäre der Atem des Sommers selbst vergiftet!«
Am späten Nachmittag hatte Torak das ungute Gefühl, dass ihn jemand beobachtete.
Immer wieder blieb er lauschend stehen, doch es war nichts zu hören, und wenn er kehrtmachte, war niemand da. Trotzdem wurde er verfolgt, das spürte er ganz deutlich. Als die Schatten länger wurden, malte er sich aus, dass ganze Horden Wahnsinniger durch den Wald streiften, kleine bösartige Wesen mit scharfen Klauen und Blättergesichtern.
Am Ufer eines reißenden Bachs schlug er sein Lager auf. Blau schimmernde Libellen schwirrten pfeilschnell durch die Luft, und die Mücken fraßen ihn schier bei lebendigem Leibe, bis er sich mit Wermutsaft einrieb.
Zum ersten Mal seit sechs Monden nächtigte er ganz allein und er verwandte große Sorgfalt auf die Wahl eines geeigneten Schlafplatzes. Die Stelle musste eben sein und hoch genug über dem Fluss, dass keine Überschwemmung heranreichte. Weder Ameisenhaufen noch häufig benutzte Wildwechsel durften in der Nähe sein, und auch keine abgestorbenen oder vom Sturm halb entwurzelten Bäume, die ihn womöglich im Schlaf erschlugen.
Nachdem er so lange in den Rentierhütten der Raben geschlafen hatte, sehnte er sich danach, wieder so zu leben wie damals mit Fa, deswegen benutzte er lebendige Bäume als Gerüst für seinen Unterschlupf. Er band drei Buchenschösslinge an der Spitze mit Kiefernwurzeln zusammen, dann deckte er das Ganze auf zwei Seiten mit morschen Ästen, Reisig und einer Schicht vermodertem Laub ab und beschwerte es mit einer weiteren Lage Äste. Schließlich hatte er einen gemütlichen Unterschlupf. Am nächsten Morgen würde er die Wurzeln durchschneiden und die jungen Bäume konnten ungehindert weiterwachsen.
Auf den Boden streute er eine Lage vertrockneter Bucheckern vom letzten Herbst und verstaute auch sein Gepäck in der provisorischen Hütte. Drinnen roch es würzig und erdig. »Riecht gut!«, sagte er laut. Es klang gezwungen und ängstlich.
Die Nacht war warm, und von Süden wehte ein leichter, lauer Wind, daher entfachte er nur ein kleines Feuer. Er legte Steine um die Feuerstelle, damit das Feuer nicht entwischen konnte, und weckte die Flammen mit Feuerstein und einer Hand voll Birkenzunder.
Er wusste noch gut, wie er mit Fa an der schwelenden Glut gehockt hatte und sie beide über das rätselhafte, Leben spendende Geschöpf sinniert hatten, das den Sippen so gut Freund war. Wovon mochte es träumen, wenn es schlief? Wohin ging es, wenn es starb?
Torak dachte auch zum ersten Mal richtig an seine Verwandten, die er womöglich bald kennen lernen würde. Vielleicht konnte er sich beim Rotwildclan endlich zu Hause fühlen. Wenn manches anders gekommen wäre, könnte er schließlich einer von
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