Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Chronik der dunklen Wälder - Seelenwanderer: Band 2 (German Edition)

Chronik der dunklen Wälder - Seelenwanderer: Band 2 (German Edition)

Titel: Chronik der dunklen Wälder - Seelenwanderer: Band 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Paver
Vom Netzwerk:
Wolf herbei. Wolf wäre nicht der leiseste Laut entgangen. Er hatte so ein feines Gehör, dass er die Wolken ziehen hörte, und so eine feine Nase, dass er sogar Fische an ihrem Atem witterte.
    Aber Wolf ist nun mal nicht da, rief sich Torak zur Vernunft. Er ist weit fort im Gebirge.
    Zum ersten Mal seit sechs Monden traute er sich nicht, nach seinem verschwundenen Freund zu heulen. Er hatte zu viel Angst, wer – oder was – seinem Ruf antworten könnte.
    Mittnacht war schon um, als er seine Ausrüstung unter dem Baum hervorgezogen und sich eine neue Hütte gebaut hatte, und er taumelte vor Müdigkeit. Außerdem bedrückte es ihn, dass durch sein Zutun drei Bäume gestorben waren. Er spürte ihre Seelen um sich, wehmütig, bestürzt, unfähig zu begreifen, warum sie keine ausgewachsenen Bäume hatten werden dürfen.
    Du bist schuld , schienen die älteren Bäume zu raunen. Du bringst Unglück…
    Diesmal kroch er vorsichtshalber nicht in den Schlafsack, sondern weckte das Feuer und hockte sich mit einem Rentierfell um die Schultern und der Axt auf den Knien in den Eingang seiner neuen Unterkunft. Er wollte nicht einschlafen. Wenn doch nur der Morgen käme …
    Er fuhr mit einem Ruck aus dem Schlaf auf. Wieder kam er sich beobachtet vor, aber diesmal fühlte es sich irgendwie anders an. Auch hing ein kräftiger, an Wegrauke erinnernder Geruch in der Luft, den er aber in seiner Schlaftrunkenheit nicht recht einordnen konnte.
    Da sah er hinter dem Feuer ein Augenpaar funkeln und tastete erschrocken nach seiner Axt. »Wer ist da?«, fragte er heiser.
    Der Angesprochene grunzte bloß.
    »Wer ist da?«, wiederholte Torak.
    Sein Gegenüber trat in den Feuerschein.
    Es war ein Schwein. Ein riesiger Keiler, von der Schnauze bis zur Schwanzspitze volle zwei Schritt lang und schwerer als drei kräftige Männer. Er hatte die großen, pelzigen braunen Ohren aufgestellt und schielte aus klugen Äuglein argwöhnisch zu Torak hinüber.
    Torak zwang sich zur Ruhe. Für gewöhnlich greifen Schweine nur an, wenn sie verwundet sind oder ihre Jungen verteidigen wollen, aber ein wütendes Schwein ist flink wie ein Hirsch und unbezwingbar.
    »Ich will dir nichts Böses«, wandte er sich an das Tier, obwohl es ihn nicht verstehen konnte, aber vielleicht würde es ja allein der Tonfall beschwichtigen.
    Die großen Ohren zuckten, die gelben Hauer blitzten im Flammenschein. Dann gab der Keiler ein gereiztes Grunzen von sich, senkte den mächtigen Kopf und begann, in den Trümmern von Toraks erster Hütte herumzuschnobern.
    Er war bloß hungrig. Für Schweine ist der Sommer eine magere Zeit, denn der Herbst mit seinen Beeren und Eicheln liegt schon lange zurück. Kein Wunder, dass er eifrig nach Wurzeln, Käfern und Würmern wühlte.
    Der Keiler kümmerte sich nicht mehr um Torak, der sich nach einer Weile in seinem Schlafsack zusammenrollte und dem tröstlichen Geschnüffel lauschte. Sein neuer Gefährte war ein grober Bursche und nicht übermäßig freundlich, aber Torak war er trotzdem willkommen. Auch Schweine haben gute Ohren und eine feine Nase. Solange der Keiler in der Nähe war, konnte sich kein kranker Irrer oder sonst jemand Böswilliges anschleichen.
    Leider würde sein neuer Gefährte bald weiterziehen.
    Torak blickte in die rote Glut und überlegte, ob Fin-Kedinns Verdacht tatsächlich zutraf, dass man ihn von den Raben hatte weglocken wollen. Wer oder was auch immer es auf ihn abgesehen hatte – sein Plan war gelungen. Torak war ganz allein.

    Um wen es sich auch handeln mochte, er war über Nacht nicht untätig gewesen.
    Als Torak aus seinem Unterschlupf kroch, regnete es. Der Keiler war fort, das Feuer erloschen und irgendjemand hatte die Steine weggewälzt und die Asche glatt gestrichen. Außerdem hatte derjenige Toraks Pfeile stibitzt, war also, während Torak schlief, in die Hütte geschlüpft, hatte sie aus dem Köcher neben seinem Kopf gezogen und, zu einem Muster angeordnet, in die Feuerstelle gesteckt.
    Torak erkannte das Muster sofort. Es war der Dreizack der Seelenesser.
    Er ließ sich auf ein Knie nieder und zog einen Pfeil aus dem Boden.
    »Na schön«, sagte er laut, als er wieder aufstand. »Ich weiß jetzt, dass du schlau bist und gut im Anschleichen, aber wenn du dich nicht augenblicklich zeigst und mir gegenübertrittst, bist du ein Feigling.«
    Im regennassen Unterholz rührte sich nichts.
    »Feigling!«, brüllte Torak.
    Der Wald hielt gespannt den Atem an.
    Toraks Ruf hallte zwischen den Bäumen

Weitere Kostenlose Bücher