Chronik der dunklen Wälder - Seelenwanderer: Band 2 (German Edition)
traute dem Frieden trotzdem nicht. Er hielt drei Schritt Abstand von dem Tier. Näher wollte er sich erst heranwagen, wenn er wieder vollständig bewaffnet war.
Geräuschlos trat er hinter die todwunde Weide und tastete im Farn nach seiner Axt.
Hinter ihm kam der Keiler taumelnd auf die Beine.
Torak wühlte verzweifelt in den Farnwedeln. Irgendwo musste sie doch sein …
Der Keiler trabte auf ihn los.
Torak erspähte seine Axt, stürzte darauf zu, packte sie, fuhr herum und hieb dem Tier die Klinge in den wulstigen Nacken.
Der Keiler brach tot zusammen.
Torak stand breitbeinig und keuchend da und hielt den Axtstiel mit beiden Händen umklammert.
Regen rann ihm wie ein Tränenstrom über die Wangen und tropfte schwermütig auf den Farn. Torak war übel. Bis jetzt hatte er nur etwas erlegt, wenn er Fleisch brauchte. Noch nie hatte er einen Freund getötet.
Er ließ die Axt fallen, kniete sich hin und legte die bebende Hand auf die noch warmen, rauen Borsten. »Es tut mir Leid, mein Freund, aber ich musste es tun. Mögen deine Seelen … in Frieden ziehen.«
Das glasige Auge begegnete seinem Blick. Die Seelen hatten den Leichnam bereits verlassen. Torak spürte sie um sich. Sie waren zornig.
»Ich werde dich mit Achtung behandeln«, versprach er und strich beschwichtigend über die schweißfeuchte Flanke, »das verspreche ich.«
Zwischen den verklebten Borsten ertastete er etwas Hartes.
Er teilte die Borsten und schnappte nach Luft. Zwischen den Rippen des Keilers stak eine Art Pfeilspitze.
Torak nahm das Messer zu Hilfe, schnitt den Gegenstand heraus und wusch ihn im Fluss sauber. Die Machart war ihm unbekannt. Die Spitze hatte die Form eines länglichen Blattes, war aber mit tückischen Widerhaken versehen und bestand aus im Feuer gehärtetem Holz.
Hinter ihm ertönte Gelächter. Er fuhr blitzartig herum. Das Gelächter verklang.
Erst jetzt ging ihm auf, was sein Fund bedeutete. Deswegen war das Tier so angriffslustig gewesen! Es war nicht krank gewesen, sondern verwundet. Wer es angeschossen hatte, war so grausam und gefühllos, dass er seine Beute nicht endgültig zur Strecke gebracht hatte, wie es das heilige Gesetz der Jagd gebot, sodass der Keiler vor Schmerzen rasend geworden und auf alles losgegangen war, was ihm in die Quere kam.
Und da Torak anscheinend der einzige Mensch war, der sich in diesem Teil des Waldes aufhielt, hatte es der Übeltäter offensichtlich darauf angelegt, ihn zum ersten Opfer des rasenden Tieres zu machen.
Kapitel 10
TORAK WICKELTE ein Stück Leber in Klettenblätter und klemmte es in eine Astgabel.
»Dank sei dem Clanhüter für diese Beute«, sagte er leise, wie er es von klein auf gewohnt war, aber zum ersten Mal empfand er dabei keine Dankbarkeit. Er sah immer den klugen alten Keiler vor sich, wie er im Laub gewühlt und ihm nachts Gesellschaft geleistet hatte, und die rundlichen Frischlinge, die nun vaterlos waren.
Widerstrebend ging er zu dem kolossalen Kadaver zurück. Er musste sich ordentlich anstrengen, bis er ihn schließlich umgedreht und ihm den Bauch aufgeschlitzt hatte, um die Innereien herausholen zu können.
Ein Rehbock war das größte Wild gewesen, das er bis dahin erlegt hatte, und mit dem hatte er zwei Tage lang alle Hände voll zu tun gehabt. Der Keiler war viel größer und würde ihn bestimmt einen halben Mond in Anspruch nehmen.
Er hatte keinen halben Mond Zeit. Er musste weiter, in den Großen Wald, den Heiltrank beschaffen.
Doch was blieb ihm anderes übrig? Das älteste Gesetz überhaupt gebot, seine Jagdbeute mit äußerster Ehrerbietung zu behandeln und alles davon zu verwerten. So lautete der uralte Pakt der Sippen mit dem Weltgeist. Entweder Torak erwies seiner Beute Achtung oder ihm drohte unermessliches Unglück.
Außerdem musste er sich um seine verletzte Wade kümmern, die so scheußlich brannte, dass nicht einmal der kühle Regen die Schmerzen zu lindern vermochte.
Am Fluss pflückte er ein Büschel Seifenkraut, feuchtete die Blätter an, zerdrückte sie, bis sie glitschig wurden und schäumten, und wusch damit sein Bein. Der Schmerz trieb ihm die Tränen in die Augen.
Anschließend musste die Wunde genäht werden. Torak ging zu seiner Trage, die unversehrt im Baum hing, und fädelte einen Sehnenfaden in seine dünnste Knochennadel. Der Faden, den er seinerzeit aus den Sehnen des erlegten Rehbocks hergestellt hatte, war dick und unregelmäßig geraten, und als Vedna ihn sah, hatte sie verächtlich die Lippen geschürzt
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