Chronik der dunklen Wälder - Seelenwanderer: Band 2 (German Edition)
Antwort. Wolf war weit fort im Gebirge.
Obendrein schien Torak der einzige Mensch in diesem Teil des Waldes zu sein. Niemand würde seinen Ruf hören und ihm zu Hilfe eilen.
Wenn er heulte, fühlte er sich einerseits verwundbar, andererseits schöpfte er daraus seltsamerweise auch Kraft. Du gehörst zum Wolfsclan, sprach er sich Mut zu. Einer wie du lässt sich nicht wie ein krankes Eichhörnchen vom Baum schütteln. Bevor ihm wieder Zweifel kamen, kappte er mit dem Messer einen etwa armlangen Ast und befreite ihn von allen seitlichen Auswüchsen. Er schnitt die Spitze stumpf ab und kerbte sie ein, bis er eine kräftige, aber biegsame Gabel hatte. Der Baum mit seinen Waffen war etwa zwei Schritt entfernt. Vielleicht – vielleicht – konnte er die Gabel in die Lederschlaufe an seinem Axtstiel schieben und die Axt zu sich herüberangeln.
Der Keiler stand, vor Schweiß dampfend, da und belauerte seine Bemühungen.
Zum Glück war der Weidenast, der am nächsten an die Stecheiche mit den Waffen heranreichte, auch der stabilste. Torak rutschte so weit nach vorn, wie er sich gerade noch traute, dann streckte er sein Hilfswerkzeug aus.
Er reichte nicht heran.
Er rutschte ein Stück zurück, nahm seinen Gürtel ab, knotete ihn um den Weidenstamm und hielt sich mit einer Hand an dem losen Ende fest. Jetzt konnte er sich noch weiter vorbeugen.
Und diesmal… ja! Er schob die Gabelung in die Axtschlaufe und hob die Waffe ganz sacht herunter.
Die Axt war schwer. Toraks gegabelter Ast bog sich, und er musste hilflos zusehen, wie die Axt herunterglitt und sich in die Erde grub.
Der Keiler quiekte, schob die Hauer unter den Axtgriff und beförderte die Waffe schwungvoll ins Unterholz.
Torak gestattete sich keinen Verzweiflungsanfall, sondern angelte mit dem Ast nach seinem Bogen. Unendlich behutsam schob er die Gabel unter die Sehne. Der Bogen war viel leichter als die Axt, denn er bestand ja bloß aus einem Stück Eibenholz und einer Tiersehne, und ließ sich ohne Schwierigkeiten herunterheben.
Als der Bogen wohlbehalten um seine Schulter hing, fasste Torak neuen Mut. »Na, hast du das gesehen?«, rief er dem Keiler zu. »Das hättest du mir nicht zugetraut, was?«
Jetzt die Pfeile. Torak hielt sich wieder an seinem Gürtel fest, angelte nach dem Köcher und bekam ihn auch zu fassen. Der kegelförmige Behälter war aus leichtem Knüpfgras geflochten, aber als Torak ihn vorsichtig zu sich heranzog, kippte er, und ein paar Pfeile fielen heraus. Torak holte seine Angel mit einem Ruck ein und konnte nur die drei letzten retten.
Einen Augenblick verspürte er eine kindische Freude. »Drei Pfeile!«, rief er triumphierend.
Drei Pfeile. Für ein ausgewachsenes Schwein. Ebenso gut konnte man versuchen, einen Elchbullen mit einem Grasbüschel zu erlegen.
Der Keiler nahm schnaufend seine Angriffe wieder auf. Die Weide würde nicht mehr lange standhalten.
Torak duckte sich auf seinem schwankenden Hochsitz und legte einen Pfeil ein. Zweige peitschten gegen seinen Zugarm, er konnte nicht vernünftig zielen …
Er ließ den ersten Pfeil von der Sehne schnellen und traf den Keiler in die Schulter. Das Tier brüllte auf, bearbeitete jedoch unbeirrt die Wurzeln der Weide mit den Hauern. Die Wunde störte es nicht mehr als ein Mückenstich.
Torak biss die Zähne zusammen und schoss den zweiten Pfeil ab, der wirkungslos von dem mächtigen Schädel abprallte.
Denk nach, Torak! Am Kopf und an der Schulter kannst du ein Schwein nicht ernsthaft verwunden. Hinter die Schulter musst du zielen, dann triffst du vielleicht ins Herz.
Es krachte und splitterte, und die Weide schwankte so heftig, dass Torak seinen Widersacher beinahe mit dem Fuß streifte.
Der Keiler setzte zum nächsten Angriff an. Doch ehe er drauflosstürmte, erspähte Torak hinter seinem Vorderlauf einen hellen Fleck, zielte und schoss.
Diesmal bohrte sich der Pfeil dem Tier tief in die Flanke. Ein schrilles Quieken – und der Keiler fiel mit dumpfem Aufprall auf die Seite.
Stille.
Torak hörte nur sein eigenes Keuchen und das leise Tröpfeln des Regens auf den Farnwedeln.
Der Keiler bewegte sich nicht.
Irgendwann hielt Torak es nicht mehr aus. Als sich das Tier immer noch nicht rührte, ließ er sich auf den zerwühlten Boden gleiten.
Als er vor der sterbenden Weide stand, fühlte er sich schutzlos. Er hatte weder Pfeile noch Axt, nur sein Messer.
Aber der Keiler musste tot sein. Die schweißgefleckten Flanken hoben und senkten sich nicht mehr.
Torak
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