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Chronik der dunklen Wälder - Seelenwanderer: Band 2 (German Edition)

Chronik der dunklen Wälder - Seelenwanderer: Band 2 (German Edition)

Titel: Chronik der dunklen Wälder - Seelenwanderer: Band 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Paver
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dünn. Er hatte seine Stiefel verloren, seine Fußsohlen waren von Lehm glitschig. Verzweifelt klammerte er sich fest und versuchte, das Gleichgewicht zu halten. Ein Ast brach mit lautem Knacken mittendurch. Der Keiler warf den Kopf in den Nacken und stierte zu Torak empor.
    Die zuvor so gelassen und klug blickenden braunen Äuglein quollen jetzt blutunterlaufen aus ihren Höhlen. Das Tier hatte sich in ein Ungeheuer verwandelt. Torak fühlte sich voller Entsetzen an Oslak erinnert.
    »Ich bin doch dein Freund!«, flüsterte er.
    Der Keiler grunzte schnaufend und verschwand krachend und knackend im Unterholz.
    Erst als er eine ganze Weile nicht zurückgekommen war, atmete Torak auf, wagte aber noch nicht herunterzuklettern. Schweine sind schlau. Manchmal legen sie sich auf die Lauer. Der Keiler konnte sich genauso gut irgendwo versteckt halten. Torak hatte einen Krampf im Bein, und als er auf seinem Ast herumrutschte, um sich Linderung zu verschaffen, spürte er in der Wade einen stechenden Schmerz. Er blickte an seinem Bein herunter und stellte verblüfft fest, dass seine Füße nicht etwa von Lehm feucht waren, sondern von Blut. Der Keiler hatte ihn an der Wade erwischt, aber er hatte es im ersten Schrecken gar nicht gemerkt. Nun, das war jetzt auch nicht mehr zu ändern.
    Der Regen ließ nach und die Sonne kam heraus. Torak betrachtete die Stecheichen und Eichenbäume ringsum und den Farn und die mit weißen Blüten übersäten Spiersträucher dazwischen. Alles wirkte ganz friedlich.
    Der Raukegeruch des Keilers lag noch in der Luft. Wenn das Tier in der Nähe lauerte, würde Torak es erst merken, wenn es zu spät war.
    Unter ihm landete ein Rotschwänzchen so schwungvoll auf einer Klettenstaude, dass die Regentropfen nur so spritzten. Es hätte sich bestimmt nicht hergetraut, wenn der Keiler noch in der Nähe wäre, dachte Torak.
    Für alle Fälle zückte er sein Messer, bat den Geist des Weidenbaums rasch um Verzeihung, brach einen Zweig ab und ließ ihn fallen.
    Das Rotschwänzchen flatterte auf. Das Farnkraut erwachte mit einem Schlag zu wütendem Leben.
    Aus luftiger Höhe beobachtete Torak, wie der Keiler den Zweig mit seinen Hauern bearbeitete und zu faserigem Brei zertrampelte. Hätte Torak seinen Hochsitz verlassen, wäre ihm ein ähnliches Schicksal zuteil geworden.
    Der Keiler schleuderte die Überreste des Zweigs ins Farnkraut, dann fuhr er mit gesenktem Kopf herum und warf sich gegen Toraks Weide.
    Seine Schulter prallte mit der Wucht eines herabstürzenden Felsbrockens gegen den Stamm. Es regnete Weidenblätter. Torak hielt sich verbissen fest.
    Der Keiler warf sich noch einmal gegen den Baum.
    Noch einmal.
    Und noch einmal.
    Torak blieb fast das Herz stehen, als er begriff, was das Tier vorhatte. Es wollte den Baum umstürzen!
    Das konnte ihm durchaus gelingen, denn dem entsetzten Torak wurde immer klarer, dass er sich den falschen Baum ausgesucht hatte. Statt auf eine der robusten Eichen oder Stecheichen zu klettern, die einem wütenden Schwein ohne weiteres standgehalten hätten, hatte er sich auf eine schlanke Weide geflüchtet, deren Stamm kaum breiter war als seine eigenen Hüften.
    Wirklich schlau von dir, Torak!, beschimpfte er sich stumm.
    Wieder rannte der Keiler gegen den Baum an und diesmal hörte man es krachend splittern. In der Rinde klaffte eine tiefe Wunde. Torak sah das entblößte rötlich braune Holz und das feucht glänzende Baumblut…
    Tu etwas! Schnell!
    Vielleicht konnte er die zunächst stehende Eiche erreichen, wenn er sich auf dem Ast nach vorn schob …
    Er rutschte sofort wieder zurück. Es war zwecklos. Der Ast sah zwar kräftig aus, aber Toraks volles Gewicht konnte er trotzdem nicht tragen. Der Baum war eine Bruchweide, deren Holz, wie jeder wusste, ausgesprochen spröde war. Demnach hatte sich Torak nicht nur den mickrigsten Baum weit und breit ausgesucht, sondern auch noch den, der am leichtesten umzuknicken war.
    Mit einem Mal hielt der Keiler inne. Die Stille war Torak fast noch unheimlicher als das Toben und Wüten.
    Ihm stand ein Kampf auf Leben und Tod bevor, den er höchstwahrscheinlich verlieren würde. Seine Waffen – Axt, Bogen und Pfeile – hingen außerhalb seiner Reichweite ordentlich an der Stecheiche.
    Sein letzter Rest Zuversicht schwand, wie ein Rinnsal im Sand versickert. Es gab keinen Ausweg. Er musste sterben.
    Ohne eigentlich zu wissen, was er tat, legte er die Hände an den Mund und heulte. Wolf! Wo bist du? Hilf mir!
    Der Wind blieb ohne

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