Chronik der dunklen Wälder - Seelenwanderer: Band 2 (German Edition)
und ihm ein Stück von ihrem eigenen überlassen. Der war so fein wie eine Spinnwebe und Torak dankte der Spenderin nachträglich noch einmal.
Der erste Stich tat unerträglich weh. Stöhnend zog Torak den Faden durch seine Haut und hüpfte mit der Nadel halb in der Wade ein paar Mal auf dem gesunden Bein im Kreis, ehe er sich zum nächsten Stich durchringen konnte. Als die Wunde fertig genäht war, liefen ihm dicke Tränen übers Gesicht.
Jetzt der Verband. Dafür zerkaute er grüne Weidenrinde – immerhin gab es hier reichlich davon –, aber als er den Brei auftrug, brannte es scheußlich. Obendrauf kam eine Lage weiches Fruchtfleisch von einem frischen Zunderpilz, die er mit etwas Birkenbast festband.
Als alles erledigt war, zitterte er am ganzen Leib. Die Wunde pochte zwar immer noch, aber der Schmerz hatte ein wenig nachgelassen.
Er hob seine Stiefel auf, die zwar lehmverschmiert, aber sonst ebenfalls unversehrt waren, und zog sie an. Zum Glück waren es Sommerstiefel mit Rohledersohlen und Schäften aus weichem Rehfell, die an der verletzten Wade nicht scheuerten. Zu guter Letzt verstaute er den restlichen Zunderpilz in seiner Trage, damit er den Verband in ein paar Tagen wechseln konnte.
In ein paar Tagen …
Dann wäre er immer noch hier und mit dem Keiler beschäftigt.
Es hatte zu regnen aufgehört. Wasser rann von der gesplitterten Weide und der riesige Kadaver glänzte feucht. Zwei Raben landeten daneben und beäugten ihn hoffnungsvoll, bis Torak sie verscheuchte.
Schwarze Punkte tanzten ihm vor den Augen, und er merkte, dass ihm vor Hunger ganz flau war. Ehe er seine Beute zerlegte, wie es sich gehörte, musste er erst einmal etwas essen.
Der Proviant, den er im Rabenlager eingesteckt hatte, war aufgebraucht, aber an frischem Fleisch mangelte es ihm wahrhaftig nicht. Nur dass ihm allein der Gedanke daran zutiefst widerstrebte.
Unter den wachsamen Blicken der beiden Vögel würgte er die restliche Leber herunter. Das Blut zu trinken fiel ihm noch schwerer. Das meiste war inzwischen im Boden versickert – schon das ein unverzeihlicher Fehler seinerseits, den er nie wieder gutmachen konnte und der ihm Unglück bringen würde, weil er gegen den Pakt mit dem Weltgeist verstoßen hatte. Um zu retten, was noch zu retten war, holte er seinen Rindenbecher und fing damit die letzten Tropfen auf. Dabei musste er unwillkürlich an Oslak denken, der den Becher einst in einer langen Winternacht für ihn angefertigt hatte, und gegen das Gefühl ankämpfen, das Blut eines Freundes zu trinken.
Danach aß er eine Hand voll zerkleinerte Klettenblätter, um den Geschmack loszuwerden, dann machte er sich endlich ans Werk.
Das Fell abzuziehen, erforderte viel Kraft. Als er damit fertig war, dämmerte es. Er war über und über mit Blut bespritzt und wankte vor Erschöpfung, das Fell war ein einziger erdverschmierter, stinkender Klumpen. Torak hatte keine Kraft mehr, es zu waschen und Fleisch- und Schwartenreste abzuschaben. Anschließend musste man es mit Holzasche und Hirnmasse einreiben, das Fleisch räuchern und die Knochen zu Angelhaken und Pfeilspitzen verarbeiten.
Nicht zu vergessen, dass er sich natürlich vor Anbruch der Dunkelheit noch eine Hütte bauen und Feuer machen musste…
»Der gute Wille genügt nicht«, sagte jemand hinter ihm.
Torak drehte sich erschrocken um.
Niemand war zu sehen. Der mannshohe Farn war wie eine dunkle Wand.
»Wer ist da?«, fragte Torak und trat einen Schritt vor, doch dann fiel ihm ein, dass seine Waffen hinten bei dem toten Keiler lagen.
Da sah er es. Ein Gesicht im Farn. Es blickte ihn an.
Ein Blättergesicht.
Kapitel 11
DAS BLÄTTERGESICHTIGE Geschöpf war nicht allein.
Daneben erschien noch eins. Dann noch eins und noch eins. Torak war umzingelt.
Als immer mehr zwischen den Bäumen auftauchten, sah Torak, dass sie zwar im Gesicht seinem rätselhaften Verfolger glichen, dass es ansonsten aber erwachsene Männer und Frauen waren, und Klauen hatten sie auch nicht.
Ihr langes braunes Haar war am Hinterkopf mit Schweifhaaren von Waldpferden zusammengebunden. Die Männer hatten ihre Bärte grün gefärbt, wie die Moosbüschel, die von Fichten herabhängen. Männer wie Frauen hatten dunkelgrüne Lippen, aber das Erstaunlichste waren die Blätter: dicht an dicht aufgebrachte grünbraune Tätowierungen, Eichenblätter bei den Frauen, Stecheichenblätter bei den Männern. Das rief den unheimlichen Eindruck hervor, dass sie durchs Laubdach eines Baumes spähten,
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