Chronik der dunklen Wälder - Seelenwanderer: Band 2 (German Edition)
selbst wenn sie auf festem Boden standen.
Die Fremden gingen barfuß und trugen ärmellose Wämser und kniehohe Beinlinge aus Rindenfaser, die so kunstvoll geknüpft waren, wie es Torak noch nie gesehen hatte. Allesamt waren sie mit herrlichen Bögen aus geöltem Holz bewaffnet und alle hatten einen Pfeil mit grüner Schieferspitze und Spechtfedern am Schaft eingelegt. Die Pfeile waren auf Torak gerichtet.
Zum Beweis seiner friedlichen Absicht legte er rasch beide Fäuste aufs Herz.
Nicht einer der Fremden ließ den Bogen sinken.
»Kommt ihr… aus dem Großen Wald?«, fragte er mit belegter Stimme aufs Geratewohl. Er spürte, dass sich die Unbekannten von dem rätselhaften Verfolger insofern unterschieden, dass sie zwar gefährlich und vielleicht auch unberechenbar waren, aber nicht von Natur aus böse.
»Und du«, erwiderte eine Frau, deren Stimme Torak wiedererkannte, weil sie es gewesen war, die ihn unvermutet angesprochen hatte, »du hast jetzt seinen Saum erreicht und musst umkehren.«
»Aber ich dachte, der Große Wald liegt viel weiter östlich …«
»Da hast du dich geirrt«, entgegnete die Frau eisig wie ein Waldsee. Sie hatte ein schmales Gesicht und ihre nussbraunen, argwöhnisch blickenden Augen standen zu eng zusammen. Auch schien sie älter als die anderen zu sein. Ob sie die Anführerin war?
»Du bist am Saum des Wahren Waldes angekommen«, wiederholte sie. »Weiter darfst du nicht.«
Der »Wahre Wald«? Unwillkürlich war Torak gekränkt. Was war denn an dem Wald verkehrt, in dem er selbst aufgewachsen war?
»Ich komme als Freund«, sagte er mit gezwungener Liebenswürdigkeit. »Ich heiße Torak. Im Großen Wald leben meine Verwandten. Der Eichenclan und mütterlicherseits der Rotwildclan. Von welchem Clan seid ihr?«
Die Frau nahm eine stolze Haltung an. »Waldpferd«, erwiderte sie hochmütig. »Wie du sehr wohl wüsstest, wenn du die Wahrheit sagtest.«
»Ich sage die Wahrheit.«
»Beweise es.«
Mit knallrotem Kopf ging Torak zu seiner Trage und holte das Medizinhorn seiner Mutter. Es war aus einer ausgehöhlten Hirschgeweihsprosse gefertigt, Fuß und Stopfen waren aus Schwarzeiche geschnitzt. Fin-Kedinn hatte ihm zwar verboten, es irgendjemandem zu zeigen, aber ein anderer Beweis fiel ihm nicht ein.
»Da.« Er hielt der Frau das Horn hin.
Sie schreckte zurück, als hätte er sie bedroht. »Leg das auf den Boden!«, rief sie. »Wir fassen keine Fremden an. Womöglich bist du ein Geist oder ein Dämon!«
»Entschuldigung«, erwiderte Torak eilfertig. »Ich … ich lege es hierhin.«
Er legte das Horn auf die Erde, und die Anführerin beugte sich vor, um es zu betrachten. Torak ging durch den Kopf, dass die Leute vom Waldpferdclan mit ihrem Totemtier nicht nur die Haartracht gemein hatten.
»Es stammt vom Rotwildclan«, verkündete die Anführerin.
Ein erstauntes Raunen ging durch ihre Gefährten.
Die Frau trat näher und sah Torak scharf an. »Du hast etwas vom Wahren Wald an dir, obwohl du hier Böses angerichtet hast, aber deine Clantätowierung ist uns unbekannt. Du darfst nicht weitergehen.«
»Was?« , entfuhr es Torak. »Ich muss aber!«
»Er darf den Wahren Wald nicht betreten«, mischte sich ein anderes Sippenmitglied ein. »Seht euch an, was er mit dem Schwein gemacht hat!«
»Und mit der Weide!«, ergänzte ein Zweiter. »Seht nur, wie sie da im Schlamm liegt. Sie stirbt und niemand lindert ihre Qualen!«
»Und wie lindert man die Qualen eines Baums, bitte schön?«, konterte Torak ungehalten.
Sieben nussbraune Augenpaare funkelten ihn feindselig aus blättertätowierten Gesichtern an.
»Du hast unserem Bruder und unserer Schwester schweres Leid zugefügt, das kannst du nicht leugnen«, sagte die Anführerin.
Torak warf einen Blick auf den geknickten Baum und den schlammverschmierten Kadaver. »Nehmt ihr sie.«
»Wie?« Die Frau machte ein misstrauisches Gesicht.
»Nehmt ihr das Schwein und die Weide. Ich bin allein, ihr seid zu siebt. Ihr kommt damit besser zurande als ich. Auf diese Weise halten wir das Unglück fern.«
Die Anführerin zögerte, als befürchtete sie eine Falle. Dann drehte sie sich nach ihren Leuten um. Zu Toraks Erstaunen sagte sie nichts, sondern machte nur ein paar flüchtige Handbewegungen.
Sogleich traten vier Tätowierte vor, zückten schmale Messer mit grünen Schieferklingen und machten sich über das tote Tier her. Verblüffend flink und geschickt zerlegten sie es, verstauten das Fleisch samt Innereien und Fell in
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