Chronik der dunklen Wälder - Seelenwanderer: Band 2 (German Edition)
Knüpfgrasnetzen, die sie aus ihren Rückentragen zogen, und hängten sich die gefüllten Netze über die Schultern.
»Um unsere Schwester kümmern wir uns später«, erklärte der eine, nickte der Weide zu und bedachte Torak mit einem geringschätzigen Blick. »Dann betten wir sie zur letzten Ruhe.« Schon waren er und seine drei Gefährten im Dickicht verschwunden.
Außer den Hauern war nichts mehr von dem toten Keiler übrig und die legte eine Waldpferdfrau Torak vor die Füße. »Die hier musst du behalten«, sagte sie ernst, »damit du nie vergisst, welch großes Unrecht du dem Wild zugefügt hast. Wärst du einer von uns, müsstest du sie zur Buße um den Hals tragen.«
»Ich weiß, dass ich unrecht getan habe, aber es geschah nicht mit Absicht!«, wandte sich Torak flehentlich an die Anführerin.
»Darauf kommt es nicht an.«
Torak holte tief Luft und unternahm einen zweiten Versuch. »Ich bin hergekommen, weil wir eure Hilfe brauchen. Bei uns im Weiten Wald herrscht eine Krankheit…«
»Wissen wir«, schnitt ihm die Frau das Wort ab.
»Woher? Hat die Krankheit etwa auch eure Sippe befallen?«
Sie reckte das Kinn. »Im Wahren Wald gibt es keine Krankheiten. Wir hüten unser Revier gut, aber die Bäume erzählen uns so manches. Sie erzählen uns von dem Übel, das ihre Schwestern im Westen heimsucht, und fragen sich, wo es wohl herkommt.«
»Es heißt, einer eurer Schamanen wüsste einen Heiltrank.«
»Wir kennen keinen Heiltrank«, lautete die barsche Entgegnung.
Torak war wie vor den Kopf geschlagen. »Ich weiß ja, dass ich euch erzürnt habe«, sagte er dann höflich, »und es tut mir Leid. Aber wenn eure Sippe keinen Trank gegen die Krankheit weiß, dann vielleicht eine andere …«
»Wir hier im Großen Wald kennen keinen Heiltrank! Die Leute vom Otterclan haben unbedacht gesprochen. Sie handeln genauso unbedacht wie ihr Totemtier, das ist so ihre Art!«
»Könnt ihr mir denn wirklich gar nicht helfen? Ihr nicht und auch niemand anders hier im Großen Wald? Bei unseren Sippen gab es schon Tote!«
»Das ist bedauerlich«, entgegnete die Anführerin, ohne im Mindesten bedauernd zu klingen, »aber so ist es nun mal. Was du suchst, ist am Meer zu finden.«
Torak machte große Augen. »Am Meer?«
»Geh immer nach Westen, lassen dir die Bäume ausrichten. Geh so weit nach Westen, bis es nicht mehr weitergeht. Dort findest du, was du suchst.«
»Stimmt das auch? Ihr wollt mich doch bloß loswerden.«
Die Miene der grüngesichtigen Anführerin wurde verschlossen. »Die Bäume lügen nicht. Wenn deine Seelen tatsächlich dem Wahren Wald verwandt wären, wüsstest du das. Aber das ist offenbar nicht der Fall, sonst hättest du hier nicht so ein Gemetzel angerichtet.«
»Ich wollte das Schwein nicht töten«, beteuerte Torak, »ich war dazu gezwungen. Es hat mich angegriffen. Jemand hatte es angeschossen und es war rasend vor Qual.«
Die übrigen Waldpferde schrien entsetzt auf.
»Welch furchtbare Tat!«, rief die Anführerin aus. »Kannst du das beweisen? Wie konnte uns so etwas entgehen, wo doch in unserem Wald kein Zweig bricht, ohne dass wir es hören?«
Torak bückte sich und hob die Holzspitze auf, die in der Flanke des Keilers gesteckt hatte. Dann fiel ihm ein, dass die Waldpferde jede Berührung mit Fremden vermieden, und er legte die Pfeilspitze wieder hin.
Was dann geschah, traf ihn ganz unvorbereitet. Die Anführerin bleckte die zwischen den grünen Lippen erschreckend weißen Zähne und fauchte: »Du wagst es, uns zu beschuldigen?!«
»Niemals!«, versicherte Torak, doch dann sah er, was ihm bis dahin entgangen war: dass an ihrem Gürtel ein Bündel dunkler Holzpfeile baumelte, die jenem Geschoss glichen, das den Keiler so gepeinigt hatte.
»Wen beschuldigst du dann? Etwa eine andere Sippe im Großen Wald? Los, antworte, oder du bist des Todes!«
»Ich habe keine Ahnung!«, rief Torak ängstlich. »Ich habe den Schuldigen gesehen, aber ich weiß nicht, wer er ist. Ich weiß nur, dass der Keiler diesen Pfeil in der Flanke hatte!«
Er atmete auf, als die Waldpferde endlich die Waffen sinken ließen.
»Ich nenne ihn den Schleicher«, fuhr Torak fort. »Im Gesicht sieht er aus wie ihr – nein, nein, so war das nicht gemeint! – , sein Gesicht ist zwar auch mit Blättern tätowiert, aber es ist klein wie von einem Kind, außerdem hat er Klauen an Händen und Füßen.«
Die Anführerin wich zurück. Sie kniff die grünen Lippen zusammen und erbleichte unter ihrer Tätowierung.
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