Chronik der dunklen Wälder - Seelenwanderer: Band 2 (German Edition)
wieder in seinen Korb. »Als ich vor drei Sommern damit anfing, wusste ich noch nicht, wie ich das Zeug eigentlich einsetzen würde. Ich wollte einfach nur auf alles vorbereitet sein.« Er wiegte den Kopf. »Manchmal kann noch nicht einmal ich vorhersagen, was die Zukunft alles bringt.«
Torak drehte sich der Magen um. »Dann ist Bales kleiner Bruder…«
Tenris zuckte die Achseln. »Ich wollte nur sehen, ob es wirkt.«
»Aber diesen Sommer… die anderen Sippen… wozu ?«
Der Robbenschamane blickte auf und seine grauen Augen blitzten. »Damit du dich offenbarst und ich sehe, was du alles vermagst.«
Also hatte Fin-Kedinn schließlich doch Recht behalten. »Und so ist es geschehen«, fuhr Tenris fort, »wenn auch anders, als ich es erwartet hatte. Ich wusste nämlich nicht, wer du bist. Ich wusste nur, dass irgendwo im Weiten Wald jemand sehr Mächtiges lebt, und nahm an, dass derjenige einen mächtigen Zauber wirken würde, um seine Sippe von der Krankheit zu heilen.« Er lächelte sein schiefes Lächeln. »Und was geschah dann? Du bist sogar freiwillig zu mir gekommen! Hast mich um einen Heiltrank gebeten! Das war zu schön, um wahr zu sein!«
»Und das mit dem Trank?«, hakte Torak nach. »War das auch nur eine List?«
Tenris holte die Selikwurzel aus dem Beutel an seinem Gürtel und warf sie ins Feuer. »Es gibt keinen Heiltrank«, sagte er höhnisch, »das habe ich mir nur ausgedacht.«
Die Flammen loderten dunkelrot auf. Die beiden Tokoroth kamen neugierig näher.
Tenris nickte zufrieden. »Manchmal ist es fast zu einfach, Schamane zu sein. Ein bisschen buntes Feuer genügt schon.« Er versetzte dem Mädchen einen Fußtritt. Die Kleine fauchte wütend und huschte zu ihrem Holzstoß zurück.
Torak erschrak, als sich der Tokorothjunge jetzt wieder an seinen Fußfesseln zu schaffen machte. Er wehrte sich strampelnd, und der Junge piekte ihm das Messer in die Wade, damit er still hielt.
»Und was hast du jetzt, wo du mich hergelockt hast, mit mir vor?«
Tenris blickte auf ihn herab, das Gesicht verzerrt vor Schmerz und Verlangen. »Als ich begriff, was du alles vermagst, konnte ich es nicht fassen. Dass ausgerechnet ein Kind solche Macht besitzt. Die Macht, sich Jäger und Wild gefügig zu machen, die Macht, über alle Clans zu herrschen…« Er schüttelte den Kopf. »Was für eine Vergeudung.«
Tenris beugte sich vor und Torak stieg der bittere Aschegeruch in die Nase. »Bald gehört diese Macht mir «, raunte er. »Ich eigne sie mir an und werde selbst ein Seelenwanderer. Dann bin ich der größte Schamane aller Zeiten …«
»Und wie willst du das anstellen?«, fragte Torak heiser.
»Mittsommer«, zischelte der Schamane. »Für Schamanenkunst die günstigste aller Nächte – und deine Geburtsnacht obendrein! Es hätte nicht besser kommen können! Alles deutet darauf hin, dass dies der rechte Augenblick ist!«
Beinahe liebevoll strich er Torak das Haar aus der Stirn. »Weißt du noch, wie wir über die Mittsommernacht gesprochen haben? Dass es dabei vor allem um Wandlung geht?«
Torak konnte nicht schlucken, so trocken war sein Mund.
»Aus Ast wird Blatt«, raunte der Schamane, »aus Jungen werden Männer.« Er beugte sich noch weiter vor, und sein heißer Atem streifte Toraks Wange, als er ihm ins Ohr zischte: »Ich schneide dir das Herz heraus und verspeise es.«
Kapitel 31
WOLF HATTE DAS Schlimmste getan, was ein Wolf tun kann. Er hatte seinen Rudelgefährten im Stich gelassen.
Er war so verdutzt gewesen, dass Groß Schwanzlos nicht auf ihn hören wollte, verdutzt und verärgert, dass er einfach umgekehrt war.
Groß Schwanzlos war allein zum Bau der Hellfelle weitergegangen, und Wolf war den Hang hinauf und wieder hinunter zum Stillen Nass gestürmt, wo er vor Wut nach dem Schilf geschnappt und einen morschen Baumstumpf zerbissen hatte. Mit dem zerkauten Holz hatte er schließlich seinen Ärger ausgespuckt.
Jetzt stand er im seichten Nass, trank sich satt und dachte an damals, als er noch ein mutterloser Welpe gewesen war und sein Rudelgefährte ihn bei sich aufgenommen hatte. Groß Schwanzlos hatte seine Jagdbeute mit ihm geteilt und ihm immer die Hufe zum Spielen und Zerbeißen überlassen, und wenn Wolf vom Laufen die Pfoten wehtaten, hatte ihn Groß Schwanzlos viele Sprünge weit auf den Vorderpfoten getragen.
Ein Wolf lässt seinen Rudelgefährten niemals im Stich.
Wolf jaulte gequält auf und hetzte zum Bau der Hellfelle zurück. Noch einmal ging es den Hang hinauf und
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