Chronik der dunklen Wälder - Seelenwanderer: Band 2 (German Edition)
hatte ihm das Wams ausgezogen und ihn auf eine kalte Steinplatte gelegt. Jemand hatte seine gefesselten Hände über einen Felsvorsprung gehängt. Die Fesseln saßen so stramm, dass er nicht hinausschlüpfen konnte, aber wenn es ihm gelang, sich mit den Fersen hochzuschieben, konnte er die Hände vielleicht über den Vorsprung heben und…
Jemand packte ihn an den Knöcheln. Der Jemand hatte spitze Klauen und ein Messer. Torak trat um sich und spürte prompt die Messerspitze an der Wade.
Schwaden von Nebel und bläulichem Rauch waberten vor seinen Augen. Er hörte Feuer knistern, es roch nach Wacholder. Das Meer hörte er nicht. Offenbar war er zu weit oben.
Vor seinen Füßen hockte jemand mit einem Blättergesicht und funkelte ihn dämonisch an.
Lähmendes Entsetzen befiel ihn. Er lag oben auf der Klippe auf dem Steinaltar und das Tokoroth bewachte ihn.
Noch ein Tokoroth trat aus dem Qualm. Ein Mädchen mit knielangem, verfilztem Haar und dürren, mit blauen Flecken übersäten Beinen. Ihre gelben Finger- und Zehennägel waren zu langen, spitzen Klauen gefeilt.
Sie beugte sich stumm über ihn, und als ihre fettigen Locken seinen Bauch streiften, überlief es ihn kalt. Mit der mageren Hand zog sie ihm Fas Messer aus dem Gürtel.
»Was wollt ihr von mir?«, flüsterte er.
Stumm hob sie mit beiden Händen das Messer.
»Was wollt ihr von mir?«
Stumm legte sie ihm die kalte Schieferklinge auf die Brust.
Dann hörte man es im Nebel leise klingeln und die beiden Tokoroth kauerten sich rasch hin.
Ein hoch gewachsener Mann trat an den Altar. Die Lundenschnäbel an seinem Gürtel klimperten bei jedem Schritt.
Torak hatte das Gefühl, ins Bodenlose zu stürzen. Diese Herzlichkeit, diese Freundlichkeit… alles Schwindel. Wolf hatte Recht gehabt, Renn hatte Recht gehabt und er selbst hatte sich entsetzlich getäuscht.
Der Robbenschamane hatte das Wams ausgezogen. Die ganze linke Seite seines schlanken, kräftigen Oberkörpers war mit furchtbaren Brandwunden bedeckt. Er hatte sich die Arme mit Asche eingerieben, sodass seine Clantätowierung nicht zu erkennen war. Auch sein Gesicht war eine aschgraue Maske – als trauerte er jetzt schon um einen Toten, schoss es Torak schaudernd durch den Kopf. Um den Hals trug er kein Amulett, sondern etwas Krummes, Rotes, Verschrumpeltes, und auf der bloßen Brust hatte er als einzige Tätowierung über dem Herzen einen kohlschwarzen, dreizackigen Spieß zum Seelenfangen. Das Zeichen der Seelenesser.
»Du bist ein Seelenesser«, sagte Torak mit erstickter Stimme.
»Einer von sieben, Torak.« Tenris’ Stimme war unverändert wohl tönend, ruhig und kraftvoll wie das Meer an einem sonnigen, windstillen Tag. »Aber mit deiner Hilfe«, fuhr der Schamane fort, »bin ich bald nicht mehr Gleicher unter Gleichen. Dann bin ich der Mächtigste von allen.«
Torak schüttelte langsam den Kopf. »Dabei helfe ich dir nicht.«
Tenris lächelte. »Du wirst wohl nicht umhinkönnen.« Er drehte sich nach den Tokoroth um und erteilte ihnen einen knappen, barschen Befehl.
Der Junge lief einen schweren Korb holen, der fast so groß wie er selbst war, das Mädchen huschte zum Rand der Klippe. Torak sah, dass sie vor dem Pfad, der zum Altar emporführte, einen Wall aus Treibholz aufschichtete.
Der Junge war mit Toraks Fußfesseln nicht ganz fertig geworden. Wenn es ihm gelang, Tenris durch Reden abzulenken, konnte er die Riemen vielleicht abstreifen, und wenn er dann noch nach Wolf heulte …
Ja, was dann? Tenris’ Speer und Harpune lagen griffbereit am Feuer und die beiden Tokoroth trugen Messer. Drei gegen einen. Konnte Wolf unter solchen Umständen überhaupt etwas ausrichten? »Deine Freunde können dir nicht helfen.« Tenris schien Gedanken lesen zu können. »Der eine bewacht die andere. Das hat was, oder?« Er nahm ein paar helle, kegelförmige Gegenstände aus dem Korb und legte sie um den Altar herum auf den Boden. Diesmal trat er unbekümmert auf die in den Fels geritzten Linien.
Torak musste ihn in eine Unterhaltung verwickeln, damit er selbst Zeit zum Überlegen gewann. »Die Krankheit…«, setzte er an, »die hast du verbreitet, nicht wahr?«
»Ich habe sie nicht nur verbreitet «, verbesserte ihn Tenris, trat einen Schritt zurück und betrachtete prüfend sein Werk, »ich habe sie geschaffen . Meine Tokoroth schlüpfen lautlos wie alle Dämonen in fremde Hütten, und ich … nun, mit Gift kenne ich mich bestens aus.«
»Aber… warum ?«
»Tja, warum?« Tenris griff
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