Chronik der Nähe
abschieben.
â Nein nein nein, natürlich nicht abschieben, nur mal zusammen
überlegen: Wieso können wir nicht einfach mal zusammen überlegen, wie es
aussehen könnte.
Das Alter mit Papa. Das Alter ohne Papa. Das Alter bei den Kindern.
Bei den Enkeln. Ohne die Kinder. Gelegentlich mit den Kindern. In der Nähe der
Kinder oder in der Ferne der Kinder.
Ob ich das frage, weil es dir gerade mal
schlecht geht, willst du wissen.
â Nein, nicht deswegen, nur ganz allgemein.
â Ãber das Alter kannst du aber nicht allgemein reden, sagst du,
entweder du redest über mein Alter oder dein Alter oder gar nicht.
Du zögerst kurz, ein Blick auf meinen Bauch, dann rauchst du wie
immer, und schon ein flüchtiger Blick auf deine Zigarette ist verboten. Ich
schau ja auch gar nicht, würde ich mich nie trauen. Nur wenn ich plötzlich
Stärke und Kampfeslust verspüre, dann kenne ich meine Waffen, und der Blick auf
deine Zigarette ist eine davon.
â Ich wollte über dein Alter mit uns reden, sage ich und muss fast
lachen, weil es ein unsinniger Satz ist, aber du bleibst ernst und abweisend.
â Das musst du schon mir überlassen.
Du drückst die Zigarette aus und zündest gleich die nächste an, kaum
zu glauben, dass ich auch manchmal rauche, und du ziehst mit einem gequälten
Seufzer an der Zigarette, als wäre es völlig unsinnig, über das Alter zu reden,
wo du doch sowieso nicht alt werden wirst, und was maÃe ich mir eigentlich an.
Dann beugst du dich vor und sagst, willst du mich etwa in ein Heim
stecken.
Ich schlieÃe die Augen, um nicht patzig zu werden, ich fluche
lautlos und weià doch, was zu tun ist. Noch eine Sekunde halte ich die Augen
geschlossen, dann reiÃe ich sie auf und lege den Kopf schräg und eine Hand auf
deine Hand:
â Ach Mama, natürlich nicht, darum geht es doch gar nicht.
Das war nicht die richtige Antwort, die richtige Antwort ist der
eine Satz, den ich gleich sagen werde. Noch kann ich es nicht, drehe die
Kaffeetasse in der Hand, aber schon öffne ich die Lippen, du wartest mit
gesenktem Kopf, dass ich ihn sage, und dann schaffe ich es:
â Natürlich nicht in ein Heim, red doch keinen Unsinn, ich will nur,
dass wir uns Gedanken machen: weil ich dich lieb habe, darum nämlich.
»Wir müssen alle mithelfen«, sagt Mutter zu Annie, »und das
gilt auch für dich, du bist groà genug.« Annie weiÃ,
dass sie groà genug ist, sie kann ja auch allein zur Schule gehen, durch die
Felder, sie kann ohne Mutter und Vater einschlafen und im Keller auf dem
Holzrost ganz still liegen, sie ist schon so lange groÃ, wie die Mutter es gar
nicht weiÃ. Natürlich kann sie ein paar Hühner versorgen, das ist einfach. Der
Verehrer des Kindermädchens hat einen Teil des Gartens mit Maschendraht
abgeteilt, Mutter hat Hühner organisiert, dafür ist sie drei Tage weg gewesen
und stolz mit den wild durcheinanderflatternden Hühnern in einem Leiterwagen
zurückgekehrt.
»Das sind jetzt deine«, sagt sie zu Annie, »und wenn du wüsstest,
was ich getan habe, um sie zu kriegen.« Sie sagt es
drohend und geheimnisvoll, Annie würde gerne fragen, was sie getan hat, aber
sie traut sich nicht.
»Du musst Hühnerfutter organisieren«, sagt Mutter, »und nach den
Eiern schauen.« Die Hühner eilen mit ruckartigen
Bewegungen hin und her. Annie hat noch nie Hühner aus der Nähe gesehen, sie
starrt sie an, sie sieht die rot umränderten Augen und die nackten Hälse, sie
mag die Hühner nicht. Mutter beobachtet Annie eine Weile, dann sagt sie, »wenn
sie sterben, bist du schuld.« Annie nickt, »ich werde
gut auf sie aufpassen, sie werden nicht sterben.«
»Jeder stirbt mal«, lacht Mutter und geht ins Haus, sie sieht schlank und
frisch aus, obwohl sie so lange unterwegs war oder vielleicht deswegen. Wenn
sie hohe Schuhe trüge, wäre sie schön, denkt Annie, und was die Hühner wohl
fressen, keiner hat es ihr erklärt, Körner vielleicht, Gemüsereste, sie wird
sich erkundigen, sie ist ja nicht auf den Kopf gefallen und hat einen Mund zum
Fragen und Augen im Kopf.
Sie sorgt für die Hühner, sie bringt ihnen Getreide, altes Brot,
Kartoffelschalen, Obstreste, Sand zum Baden brauchen sie, und wehe, es kommt
der Fuchs, sie füllt ihnen Wasser in einen Napf und sammelt die Eier ein,
kleine Eier mit einer unregelmäÃigen, bleichen
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