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Chronik der Nähe

Chronik der Nähe

Titel: Chronik der Nähe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Pehnt
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Kohlensäure,
wenn der große Kopfschmerz kam, er warf mir einen scharfen Blick zu, wenn ich
anfing, dich mit Fragen Richtung Bett zu treiben.
    â€“ Lass deine Mutter doch, die ist doch erwachsen, die kann schon
selbst ins Bett gehen, wenn sie will.
    â€“ Aber sie weiß nicht, was sie will, wenn sie Kopfschmerzen hat.
    â€“ Ja, dann lass sie doch herumsitzen und Kopfschmerzen haben.
    â€“ Aber das ertrage ich nicht.
    â€“ Wieso denn. Hast du etwa Kopfschmerzen oder sie.
    â€“ Das ist das Gleiche. Du hast eben keine Mutter, du kannst dir das
nicht vorstellen.
    â€“ Du kannst doch einfach neben ihr sitzen.
    Aber ohne Worte kommen wir nicht aus. Aber wenn, dann richtig gut,
ganze Augenblicke lang schweigend im Café, unter der Birke, auf Reisen, du
lesend, das ist ja auch Schweigen, ich lesend: einträchtig.
    â€“ Siehst du, es geht. Man muss nicht dauernd reden.
    â€“ Deine Mutter ist sie ja nicht.
    Wenn du nächste Woche noch in der Klinik bist, werde ich nach Hause
fahren und den Richtigen ablösen, der auch für dich der Richtige ist, damit er
zu dir kommen und auf dich aufpassen kann, vielleicht besser als ich,
vielleicht redest du mit ihm. Noch ist der Sommer ja nicht vorbei, nur in der
Klinik, da gibt es ihn nicht.
    â€“ Geh drei Schritte vor die Pforte, da fängt er schon an, Mama, warm
und klamm, wir machen etwas zusammen, wir beiden, und nehmen viel zu lesen mit,
was meinst du.
    Vater ist Maler, ein guter Maler für Landschaften, er
streicht durch die Wiesen und an toten Rheinarmen entlang und malt Kopfweiden,
Koppeln, Pappelgruppen, Wege. Er hat einen Lederrucksack voll mit Pinseln und
Farben und unter dem Arm eine kleine Staffelei, die Annie manchmal auf- und zuklappt,
weil sie sich in einer schönen Bewegung beinahe von selbst auffaltet, leicht
wie ein gut geölter Notenständer. Der Vater nimmt Annie mit auf die Felder
hinter den Gärten und zeigt ihr den Mohn und wie unglaublich rot dieser Mohn
ist und wie man dieses Rot erst einmal sehen und dann malen kann, mischen,
immer wieder neu ansetzen, die Sehnsucht nach genau diesem einen Mohnrot nicht
aufgeben. Annie malt nicht, es ist Krieg und es gibt anderes zu tun, Mutter ist
nicht da, Vater steht in den Feldern und sucht nach dem einen Mohnrot, Annie
sucht Hühnerfutter und hilft dem Kindermädchen im Haus und in der Küche, in der
es nichts zu kochen gibt.
    Vater setzt Annie auf die Knie, obwohl sie schon zu groß ist, und
lässt ein Foto machen, ein Familienfoto, nur dass Mutter gerade nicht da ist.
Das ist vielleicht gut, weil Mutter viel jünger ist als Vater, sie hätte
beinahe seine Tochter sein können oder sogar Annies Schwester. Und vielleicht
gut, dass man die blutjunge Mutter nicht auf dem Foto neben dem großväterlichen
Vater sieht, der Annie auf den Knien hält, graue Hosen mit scharfen
Bügelfalten, und mit einem strengen, für Fotos eingerichteten Mund und einem
wehen, für niemanden eingerichteten Blick an der Kamera vorbeischaut, während
Annie, rundlich und neckisch, mit seinen Fingern spielt wie ein kleines Mädchen
und in die Kamera blinzelt.
    Â»Dabei bist du doch nicht mehr klein, warum tust du dann so«, sagt
Mutter später, als sie das Bild sieht, tadelnd, »und warum musst du dich so
anschmusen.«
    Einen Ausflug haben sie zusammen gemacht, den kann Annie nicht
vergessen, weil es der einzige war. Zu Fuß sind Mutter mit einem Korb über dem
Arm, Vater mit seinem Rucksack und Annie über die Wiesen hinunter zum alten
Rheinarm gegangen. An einen Holzsteg war ein Ruderboot angebunden, in das sie
hineinsprangen, Mutter an Vaters Hand, Annie hob er vom Steg herunter. Sie
fühlte sich klein und leicht. Auch Mutter war leicht und schmal. Sie lachte oft
und wendete den Kopf so zur Seite, dass ihr Haar über das linke Auge fiel. Sie
legte die Ruder in die Dollen, als hätte sie es schon oft gemacht, Vater
schaute ihr zu, und sie wusste es, während Annie die Blicke beobachtete, die
sie beglückten und überraschten, weil Vater und Mutter sich sonst nicht
anschauten. Oft waren sie ja nicht einmal zur gleichen Zeit zu Hause, wie
sollten sie sich da anschauen. Aber nun saßen sie alle in dem Ruderboot, in
Mutters Korb war Rosinenstuten mit Pflaumenmus, und sie konnte rudern, mit
zügigen Bewegungen ruderte sie das Boot vom Steg weg auf das brackige Wasser.
Annie saß vorne, hielt die Hand ins Wasser und krümmte die Finger in

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