Chronik der Nähe
Schale. Mutter nimmt die Eier
mit einem zufriedenen Lächeln, aber sie dankt Annie nicht, weil Annie zwar die
Hühner füttert, es aber ohne Mutter gar keine Hühner gäbe.
Dann gibt es eine Weile weniger Eier, Annie beobachtet die Hühner
und überlegt, ob sie das Futter ändern muss, aber es gibt nicht viel Auswahl.
Als sie einen der Futtereimer umdreht, der schon fast eine Woche umgestürzt in
der Ecke liegt, schieÃt darunter ein Huhn hervor. Es hat sich selbst
eingesperrt, vor lauter Gier ist es unter den Eimer geraten und nicht mehr
herausgekommen. Annie sieht nur den dürren Hals und die zittrigen Beine, sie versucht,
das Huhn einzufangen und zu beruhigen, inzwischen hat sie gelernt, die mageren,
zuckenden Körper fest mit beiden Händen zu fassen und an ihren Bauch zu
drücken, dass sie stillhalten. Aber das ausgedörrte Huhn rast von einer Ecke in
die andere, immer am Zaun entlang, den Kopf vorgestreckt, den Schnabel seltsam
aufgerissen. Annie geht weg, sie muss zur Schule, und als sie zurückkommt,
liegt das Huhn zusammengefallen in einer Ecke und hackt nach ihr, als sie ihm
die Wasserschale vor den Schnabel hält.
Am nächsten Morgen ist es gestorben. Obwohl Annie nicht traurig ist,
schieÃen ihr die Tränen in die Augen. Sie nimmt das schlaffe Huhn in den Arm
und trägt es hinter die Obstbäume, gräbt ein Loch und legt das Huhn hinein. Ein
Gebet würde sie ihm sprechen, aber ihr fällt einfach nichts ein.
Wenn du rauskommst, räume ich für dich auf. Immer alles
aufgeräumt für dich, meinen seltenen Besuch: immer wieder gesaugt und gestaubt
und die Schuhe in die Regale gepresst, die Mäntel in den Schrank gefaltet und
alles gespült und weggestellt, sogar die Heizungen abgestaubt, hinter den
Rippen der Heizungen mit einem Pfeifenputzer die Spinnweben weggekratzt,
gewusst, wohin dein Blick dich führen wird gleich beim Eintreten. FuÃmatte
ausgeschüttelt. Altglas weggebracht. Aber nicht gut genug, dein Blick ist
schneller und besser und findet die eine Spinnwebe, das eine Schamhaar, ohne es
zu sagen, also muss ich es sagen:
â Hab ich doch extra aufgeräumt für dich, wie du siehst.
â Nein, das wär mir jetzt nicht aufgefallen.
â Wie, das wär dir jetzt nicht aufgefallen.
â Na, es sieht doch so aus wie immer, würd ich meinen.
â Aber ich hab extra die Heizungen und die Garderobe und auch die
Fenster, ich meine die Fensterbänke, ach, was erzähl ich dir, du siehst es ja
eh nicht.
â Doch ja, jetzt, wo du es sagst, natürlich sehen die Fenster sehr
gut aus, sehr klar.
â Aber die Fenster meine ich ja nicht, ich meine die Fensterbänke .
â Ja, die wische ich ja auch immer ab, wenn der Fensterputzer kommt,
du erinnerst dich, dieser Wuschelkopf, der aussieht wie ein Künstler,
vielleicht ist er ein Künstler, und immer wenn er kommt, ist es eine sehr gute
Gelegenheit, mal die Fensterbänke ein bisschen zu wischen.
â Ja, ich hab eben keinen Fensterputzer, den Luxus hab ich eben
nicht.
â Den hatte ich auch erst sehr spät, was meinst
du, wie lange ich alles selbst gemacht habe, und daneben noch du und die
Arbeit.
â Du hast doch gar nicht gearbeitet, als ich klein war, dachte ich.
â Ja, weil ich bei dir sein wollte.
â Warum sagst du dann die Arbeit.
â Ist das etwa keine Arbeit, ein Kind zu haben.
Und doch bist du groÃzügig. SaÃest in meinem WG -Zimmer,
in der WG -Küche mit den anderen, redest mit allen,
sitzt in meiner kleinen Wohnung am Küchentisch, immer in der Küche, die Birke
vor dem Fenster: Birkenpollen. Meine Augen jucken, und nur du siehst es und
sagst es, und es tut so gut.
â Deine Augen, Schätzchen, die brennen, oder.
â Ja, sie brennen.
Sie brennen auch jetzt, und es sieht keiner und sagt keiner.
â Ich seh es ja, sagtest du, nicht reiben, sonst wird es nur
schlimmer.
Aber es wurde schon besser, ich legte mir die Handflächen auf die
Augen und spürte, wie das Brennen abklang.
â Augentrost geht auch, ein paar Tropfen am Morgen und am Abend,
weiÃt du, ich bring dir mal welchen mit.
Schon wollte ich mehr davon, mehr Trost und Augentrost, Herztrost:
eine Reise.
â Mama, lass uns im Sommer, es muss ja nicht lang sein.
â Ja ja, wenn es sich ergibt. Du willst doch lieber mit deinem, wie
heiÃt er noch, oder.
â Mit dem kann ich ja auch noch später, Mama,
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