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Chronik der Nähe

Chronik der Nähe

Titel: Chronik der Nähe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Pehnt
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Händen, zu
Butter zerlaufen, vielleicht dich in Tränen auflösen und ich gleich mit, das
war mein Geschenk an dich, aber in diesen harten Schultern war nicht genug
Hingabe, das reichte ja hinten und vorne nicht, und in meinen Fingern plötzlich
ein heftiger Druck, den ich kaum kontrollieren konnte, ich drückte und zog
deine Schultern auseinander, und wenn es wehtat, dann war es nicht mein
Problem, aber du seufztest plötzlich wohlig.
    â€“ Au, das tut ja richtig weh, tut gut, tut das.
    Deine Haut glatt und fest, du gehst nicht auseinander, du bleibst
einfach so wie immer vielleicht. Von hinten wie ein junges Mädchen, sagst du
oft und lächelst schelmisch, du weißt, dass es stimmt, deine Haare dunkel, die
Arme schwingen beim Gehen, die pralle Handtasche immer unter dem Ellbogen. Nur
ein Schlurfen hat sich eingeschlichen, die Füße hebst du nicht mehr wie früher,
du lässt sie über den Boden schlurren und merkst es nicht.
    â€“ Mama, heb doch die Füße, du schlurfst.
    â€“ Ja, darf ich das nicht, das stört doch keinen, oder.
    â€“ Doch, mich stört es, es ist alt, nur alte Leute schlurfen, du
kannst doch einfach so gehen wie früher, oder liegt es an den Schuhen.
    â€“ Also gut, ich achte darauf.
    Und du achtest darauf, aber nur für einige Minuten, du nimmst die
Schultern ein wenig zurück, streckst dich und schreitest aus wie früher, kein
Schlurfen, ein beinahe lautloses, rasches gezieltes Gehen.
    â€“ Na also, es geht doch.
    In der Baracke singt niemand. Stattdessen knurrt der alte
Onkel Hermann im Schlaf, oder er furzt so laut, dass Annie anfangs lachen muss,
aber weil es jede Nacht passiert und auch schon am Nachmittag, wenn der Onkel Hermann
einnickt, ist es bald nicht mehr zum Lachen. Außerdem ist lachen, wenn niemand
mitlacht, seltsam, einfach zu laut und springt ins Leere, und man hört lieber
gleich wieder auf. Natürlich lacht Annie trotzdem, mit anderen Kindern in der
Schule oder auf dem langen Nachhauseweg. Sie erzählt die Geschichte mit dem
Huhn unter dem Futtereimer, und die anderen Kinder lachen. Einmal erzählt sie
sogar, dass ihr Vater tot umgefallen sei, und da lachen die anderen Kinder aus
lauter Gewohnheit auch, bis sie merken, dass dies eine traurige Geschichte ist,
da rennen sie weg. Traurige Geschichten soll man nicht erzählen, jeder hat sie,
aber alle behalten sie für sich. Das muss sich Annie merken.
    In der Baracke ist kein Tisch, an dem Annie ihre Schularbeiten
machen könnte, Mutter ist nicht da, weil sie das Leben für das Kind
organisiert, Vater schon gar nicht, und der alte Onkel Hermann knurrt auf
seiner Pritsche. Annie legt die Hefte auf die Knie oder auf das Bett, aber es
ist zu weich, und der Stift drückt Knicke und kleine Löcher ins Papier.
    Die Felder sehen durch das kleine Fenster aus wie eine gerahmte
Postkarte, und wenn Annie die Barackentür hinter sich zuschlägt, beben die
Wände, als hielten sie noch höchstens bis zum nächsten Tag. Solange es nicht zu
kalt wird, streift Annie durch die gerahmte Postkarte, die vielleicht der Vater
gemalt hat, auf der Suche nach anderen Kindern und etwas zu essen. Sie isst
jungen Löwenzahn und probiert auch Moos, das bitter schmeckt, aber bald wird es
Herbst, und der Löwenzahn wird hart und gelb. Abends jammert der Onkel Hermann
über Hunger und dass Annie ihm etwas zu essen geben soll, das wird sie ja wohl
schaffen, oder soll er verkümmern. Ratlos sucht sie in der verkratzten Truhe,
die Mutter aus den Trümmern gerettet hat, obwohl sie weiß, dass dort außer ein
paar alten Kleidern, dem kaputten Seidenschal und dem Nähzeug der Mutter nichts
zu finden ist. Dann geht sie suchend an den Feldern entlang zu den Häusern, die
es noch gibt. Bei den Lehnerts gibt es montags und mittwochs Kartoffelschalen,
mit Salz schmecken sie so gut, dass sich die Zunge kräuselt. Annie steht bei
den Wäschestangen, bis Frau Lehnert ihr die Schale mit den Abfällen durch das
Küchenfenster reicht, »mehr ist nicht«, sagt sie schulterzuckend, »wir brauchen
ja selbst auch was, weißt du.« Das weiß Annie, sie
bedankt sich für die Kartoffelschalen und stopft sie in den Mund, noch bevor
Frau Lehnert das Fenster wieder geschlossen hat. Für den Onkel Hermann reicht
das nicht, er wartet unruhig in der Baracke, dass Mutter mit Essen kommt,
richtiges Essen will er, nicht das, was Annie so findet, und wenn

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