Chronik der Nähe
Kind hatte, also jetzt. KÃNIGE HIRTEN U. A. stand mit dickem Filzstift auf dem
einen Karton, DAS HEILIGE PAAR U. SCHAFE auf dem
anderen.
â Wenn du die Krippe für dein Kind aufbaust, sagte sie feierlich,
werde ich tot sein, und du wirst an Weihnachten an mich denken. Mir traten
Tränen in die Augen, und ich nickte und bat sie mit leiser Stimme, noch lang
nicht zu sterben. Das gefiel ihr. Sie nahm meine Hand und raunte, ich bin nicht
gesund, das weiÃt du. Aber solange deine Mutter in der Klinik ist, bin ich für
dich da, das verspreche ich dir. Ich weinte noch mehr, weil ich plötzlich
heftige Angst um dich hatte, und fing an zu zittern. Da holte die Oma ein
Küchenmesser und schnitt das Packtesa durch, mit dem der Karton mit dem HEILIGEN PAAR zugeklebt war, und zog langsam die Maria,
die meine werden würde, aus der Holzwolle. Sie legte sie in meine Hand, ich
schaute in das weiche gestickte Gesicht und strich über den dunkelblauen
Samtumhang und die Locken aus Echthaar, die die Oma bei der Friseuse in Tüten
abfüllte. Diese Maria war schöner als Omas Maria und schöner als alle anderen.
Ich hörte auf zu weinen und durfte auch Joseph hervorholen, der struppige
rötliche Haare hatte und eine kleine Laterne in der Hand, die Schafe waren aus
weiÃem Fimo gebrannt und mit echter Schurwolle beklebt. Ich baute die Heilige
Familie auf, während die Julisonne auf den Küchentisch brannte, nur das
Jesuskind fehlte, aber das fiel mir erst viel später auf.
â Spiel nur, wir machen Weihnachten, wenn es uns passt, und wenn du
noch Sand brauchst oder Moos, dann hol ich dir alles aus dem Stadtpark.
Abends wollte ich mit dir telefonieren, aber die Oma verbot es.
â Deine Mutter muss schlafen, du störst sie nur.
â Wird sie wieder gesund.
Eine Bühne tat sich auf, ich war kein schlechtes Publikum. Omas
Augen füllten sich rasch mit Tränen, sie griff sich an den Kopf, wer weià das schon,
flüsterte sie, ich wünsche es dir und deinem Papa, denn ohne Mutter kommt
niemand zurecht. Ihre Lippen zitterten dabei. Entsetzt starrte ich sie an, die
Vorstellung hatte mich restlos überzeugt, auch ich würde ohne Mutter niemals
zurechtkommen, und ich holte Luft, um rettungslos zu weinen. Da straffte sich
Oma, die Tränen in ihren Augen versiegten, noch ein Tupfer mit dem Taschentuch,
und schon blitzte sie mich verschwörerisch an und rettete mich mit dem
besonderen Versteckspiel: Ich verbarg mich in der kleinen Wohnung, so gut es
ging, sie schritt langsam durch die Zimmer und rief laut, mit klagender Stimme,
wo ist denn mein Kleines, meine süÃe Enkeltochter, ich habe sie verloren, und
wenn ich dann von hinten auf ihren Rücken tippte, schrie sie gellend, als hätte
sie ein Blitz getroffen, und ich erschreckte mich selbst so sehr, dass auch ich
schrie. Danach konnte ich gut schlafen.
Am nächsten Tag zeigte sie mir die Fotos aus ihrem alten Album, das
sie aus der Truhe holte, die den Krieg überlebt hatte. Ich sah das Elternhaus
mit den zwei Erkern und dem Obstgarten, die Oma als junge Mutter in einem etwas
zu engen Hauskleid lachend am Gartenzaun, dich auf dem Schoà deines ältlichen,
streng blickenden Vaters. Eine sanfte Langeweile breitete sich im juliwarmen
Zimmer aus, ich kannte die Bilder, ohne etwas damit zu verbinden.
Ich finde, habe ich dir immer wieder gesagt, du solltest zu diesen
Bildern ein Buch schreiben, so sagen sie mir nichts. Du kannst sie zum Sprechen
bringen. Du kannst doch gut schreiben, Geschichten von der kleinen Annie im
Krieg.
â Blödsinn, wehrst du ab, ich habe genug Arbeit mit den Büchern
anderer Leute, und die alten Geschichten, die interessieren dich doch gar
nicht, frag doch deine Oma.
â Mama, die Leute wollen so was lesen, über den Krieg und so.
â Das heiÃt nicht, dass ich es machen muss.
â Ich würde es aber auch gern lesen, du musst ja nicht alles
aufschreiben. Nur das Wichtigste.
â Was soll denn das sein, das Wichtigste. Das ist alles nicht so
wichtig, wie immer alle denken.
Ich umschmeichelte dich, dass du gut schreibst, dass du sicher viel
zu erzählen hast, dass wir es binden lassen könnten für deine Nachkommen, dass
es mit einem Ledereinband auch ein sehr schönes Geschenk für einen runden
Geburtstag wäre, dass du dir über deine Kindheit Rechenschaft ablegen könntest,
dass ich dann vieles an dir sicher besser verstehen
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