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Chronik der Nähe

Chronik der Nähe

Titel: Chronik der Nähe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Pehnt
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allein.
    â€“ Nein, ich lasse dich nicht allein.
    â€“ Stirbst du bald.
    â€“ Nein, ich sterbe nicht.
    â€“ Und wenn du doch stirbst.
    â€“ Nein, in meiner Familie werden alle uralt. Schau dir Oma an, die
ist auch uralt, ich sterbe nicht.
    â€“ Kommt bald Krieg.
    â€“ Nein, es kommt kein Krieg.
    â€“ Aber als du Kind warst, da war Krieg.
    â€“ Ja, da war Krieg, aber das ist lange her, die Menschen wollen
keinen Krieg.
    â€“ Und wenn doch Alarm kommt.
    â€“ Dann ist es nur zur Probe, das weißt du doch, das kennst du doch,
nur um zu sehen, ob alles noch funktioniert, falls es mal brennt zum Beispiel.
    â€“ Brennt, wieso brennt, brennt etwa das Haus ab.
    â€“ Nein, es brennt nicht, bestimmt nicht, Häuser können nicht
brennen.
    Nur um ganz sicherzugehen, zog ich die Rollladen ein Stück auf,
durch die Ritzen kein Feuerschein, keine Glutwand, deine Worte hatten geholfen,
wieder einmal, ich lag klein im Bett, geschützt vom Regenprasseln und euren
Schuhen im Flur.
    Dabei war ich nicht mehr klein und du nicht groß, wir näherten uns
einander an: Ich wuchs bis an deine Brust, bis an deine Schlüsselbeine, bis zum
Hals. Groß bist du nicht und stark nicht, obwohl du gern die Hände zeigst,
kräftige Finger, dicke bläuliche Adern, auf die ich, als ich klein war,
drückte, um zu schauen, ob sie verschwanden, aber sie sprangen gleich wieder
hervor.
    Deine neuen dicken Klinikhände sind ungeädert, heute Morgen habe ich
nachgeschaut. Das kann dir nicht gefallen, du bist stolz auf diese Adern, die
kommen vom Arbeiten, hast du oft gesagt. Deine Arbeit ging gut von zu Hause
aus. Du saßest rauchend auf dem Sofa oder in der Küche, die Übersetzung gegen
die Knie gestemmt oder auf dem Küchentisch gestapelt. Langsam mit dem
Kugelschreiber, Wort um Wort auf Schmierpapier entstand ein neues Buch. Ich
sah, wie der Stapel wuchs, dein Gesicht über den Kugelschreiber gebeugt, der
sorgfältig jeden Buchstaben ins Papier grub, dein dunkelblauer Pulli hatte
einen Rollkragen und roch rauchiger mit jedem Tag, bis die Übersetzung fertig
war, dann kam er in die Reinigung.
    â€“ Wieso kriegt man davon solche Hände.
    â€“ Na, wer eben nicht faul ist, dem sieht man es auch an.
    Hände wie ein Hausmädchen und mit solchen Händen das Feuer in Schach
halten, zumindest bis ich eingeschlafen bin.
    Kein Gutenachtkuss oder nur ein kleiner rascher.
    â€“ Ich will noch einen, gib mir noch einen bitte, sonst kann ich
nicht schlafen, und meinst du, es gibt Krieg.
    Als der Vater tot und das Haus nur noch ein Schutthaufen im
Obstgarten ist, ziehen Mutter und Annie in eine Baracke. Irgendwo müssen sie ja
wohnen. Die Baracke liegt weit außerhalb des Ortes, noch hinter den Mais- und
Spargelfeldern, noch weiter weg von der Schule als das alte Haus, und sie hat
nur ein Zimmer, in dem Mutter, Annie und ein alter Onkel Hermann leben, der
auch ausgebombt ist. Das Kindermädchen hat nicht hineingepasst, es gibt ja auch
in der kleinen Baracke nicht sehr viel zu tun, und Annie passt auf sich selbst
auf. Jeden Abend, wenn sie auf ihrer Pritsche liegt, wartet sie trotzdem
darauf, dass sich die Hand des Kindermädchens auf ihre Stirn legt und deren
Stimme ein Schlaflied singt, Guten Abend, gute Nacht vielleicht, oder Weißt du
wie viel Sternlein stehen, so wie es jahrelang gewesen ist, vielleicht ihr
ganzes Leben. Sie hat die Augen nie aufgemacht, und manchmal hat sie sich
vorgestellt, dass die Hand und die Stimme gar nicht dem Hausmädchen gehörten,
sondern einem Engel oder sogar der Mutter. Oft wartete sie umsonst, wenn das
Kindermädchen sich zu einem ihrer Liebhaber schlich, die draußen unter den
Pflaumenbäumen warteten, oder wenn es tanzen ging, dann schlief Annie eben
allein ein. Das Kindermädchen roch nach gebratenen Zwiebeln, und der salzige
Duft mischte sich mit dem Waschmittel des Hauskittels, den sie nur auszog, wenn
sie zu den Männern draußen lief. Wie viele es waren, wusste Annie nicht, aber
sie gönnte keinem von ihnen die festen und warmen Finger des Kindermädchens,
die nur für sie da sein sollten jeden Abend. Ein Mädchen für Kinder, das war
es, was sie brauchte, ein Mädchen war keine Mutter und konnte gut streicheln.
    Â»Wer ist das da draußen«, fragte sie einmal beim Frühstück und
reckte den Kopf, weil dort jemand am Gartenzaun herumstand und unauffällig
hineinwinkte. Das Kindermädchen strich sich

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