Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Chronik der Nähe

Chronik der Nähe

Titel: Chronik der Nähe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Pehnt
Vom Netzwerk:
über den Kittel, der schon die
ersten Flecken des Tages trug, und wurde an den Schläfen rosa. »Mein
Verlobter«, sagte es.
    Â»Singst du dem Verlobten draußen auch was vor«, fragte Annie.
    Â»So ähnlich«, sagte das Kindermädchen und grinste.
    Â»Kann ich mal mit«, fragte Annie beharrlich, »und ihn kennenlernen«,
aber das Hausmädchen schnaubte nur: »Ich glaube, du spinnst. Willst du Kanon
singen oder was.«
    Annie fürchtete, sie hätte sich alles verscherzt, doch schon am
nächsten Abend hörte sie den Tritt der schnellen Holzschuhe auf dem Flur,
direkt vor ihrem Zimmer, vor ihrem Bett, und weil sie die Augen fest genug
geschlossen hielt, legte sich der Zwiebelgeruch auf ihr Gesicht, spürte sie
wieder das leichte Streicheln am Haaransatz und hörte das Singen. Wenn das
Kindermädchen die falschen Worte sang, stimmte Annie leise ein und sang es
richtig.
    Annies Schulweg ist lang geworden. Sie hat gelernt, morgens zur
rechten Zeit aufzuwachen, weil sie es sich befiehlt. Oft wird sie auch wach,
wenn der Onkel Hermann sich aufrappelt, laut furzend an Annies Liege vorbei
nach draußen geht und bei offener Tür gegen die Barackenwand pinkelt. Dann
wartet sie noch mit geschlossenen Augen, bis er wieder schnaufend auf der Liege
sitzt.
    Umarmen: nicht so leicht. Einer von uns sträubt sich kaum
merklich. Am besten geht es, wenn wir uns nicht anschauen.
    Aber streicheln, ein bisschen streicheln, die Füße: glatte Haut
zwischen den Zehen, die schrundigen Fersen entlang, meine Füße immer kalt, so
wie deine. Ich werde das morgen probieren, wie sind deine Füße, sind sie kalt
wie immer. Erst den linken, dann den rechten. Auch die Knöchel.
    Wenn ich zu Besuch bin und wir den aufgetauten gedeckten Apfelkuchen
essen, Papas Lieblingskuchen, dem du auch nach seinem Tod treu geblieben bist,
den kann man selbst nie so gut hinkriegen, dann, nach einer Weile und ganz
unauffällig, schiebe ich dir meine, schiebst du mir deine Füße auf den Schoß,
das fällt ja kaum auf, ich zupfe dir die Nylonsöckchen, du zupfst mir die
Baumwollstrümpfe von den Zehen, erst kräftig über den Spann, kurz mit Daumen
und Zeigefinger das Schienbein hoch, dabei reden wir natürlich weiter, das geht
ja gleichzeitig, und aufhören zu reden muss man deswegen noch lange nicht, ja,
morgen versuche ich es, ich rede mit dir, auch wenn du nicht zuhörst oder doch,
und probiere die Füße, ob sie zuhören.
    Füße sind weit weg vom Kopf.
    â€“ Den kannst du auch massieren, das darfst du.
    Aber einmal wolltest du nicht, ich war zu Besuch gekommen, der ganze
Besuch reserviert für Übungen in Nähe. Ich hatte alles dabei, eine Unterlage
wegen der Ölflecken, ein feines Öl mit einem Duft nach Holz und Zimt, ein Tuch
für eine heiße Rolle, das konnte ich, und das war eine gute Währung für dich
und mich, aber du, du wolltest an dem Tag nicht. Noch eine rauchen, die Heizung
etwas hochdrehen, frieren wollten wir beide nicht. Jetzt ausziehen, dann gibt
es jede Menge Nähe, stundenlang, so lang, wie du willst.
    â€“ Was ist denn, was hast du: Du willst das doch immer, du hast es
noch nie nicht gewollt.
    â€“ Ja, ich kann doch auch mal nicht wollen.
    â€“ Ja nein, du sollst aber wollen, ich hab doch extra alles, alles mitgebracht.
    â€“ Ja, so viel war das nun auch wieder nicht.
    â€“ Es geht nicht um viel oder wenig, es geht um die Gedanken dahinter,
verstehst du.
    â€“ Na, wenn es dir so wichtig ist, dann leg los.
    â€“ Nein, so will ich es nicht, nicht wenn du nicht willst.
    â€“ Na, vielleicht will ich ja doch, wenn es dir so wichtig ist.
    â€“ Es geht nicht um mich, ich wollte es für dich.
    â€“ Bist du sicher.
    Schließlich taten wir es, breiteten die Unterlage aus, ich richtete
das Öl, stellte alles bereit. Du legtest dich angezogen auf die Unterlage.
    â€“ Aber du musst dich doch ausziehen, Mama, das ist doch wohl klar,
wie soll ich dich denn sonst massieren, klar, oder.
    â€“ Ach so.
    Du ziehst dich halb abgewandt aus, faltest die Kleider langsam, als
wolltest du Zeit gewinnen, dann legst du dich wieder hin, die Arme eng an den
Leib gepresst.
    â€“ Mama, du sollst dich entspannen, streck doch mal Arme und Beine
von dir.
    â€“ Ich liege so, wie ich liege.
    Ich drücke die Finger in die widerwilligen Schultern, das hatte ich
mir anders vorgestellt, du solltest dahinschmelzen unter meinen

Weitere Kostenlose Bücher