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Chronik der Nähe

Chronik der Nähe

Titel: Chronik der Nähe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Pehnt
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niemand
kommt, rappelt er sich hoch, zieht sich die Schuhe an und geht langsam zum
nächsten Hof, um nach Zuckerrüben zu fragen. Er läuft nach vorne gebückt wie
ein ausgewrungener, ausgeleierter Strick, in der Hand sein Stock. Wenn Annie
ihn von Weitem am Wegrand sieht, vergisst sie, dass sie ihn kennt, und wundert
sich über die trockene Stange von Mann.
    Wenn Mutter zurückkommt, gibt es große Auftritte. Durch Onkel
Hermann ist die Vorführung jetzt bedeutender. Er richtet sich auf, Annie steht
erwartungsvoll in der Tür, Mutter winkt Annie ganz nah zu sich, sie braucht ihr
Publikum.
    Â»Seht, was ich habe«, ruft sie und öffnet langsam den Deckel des
alten Korbs, in dem früher die Kartoffeln gelagert wurden, und ganz langsam
holt sie eines nach dem anderen hervor, ein Stück Käse, sie hält es in die
Luft, ein paar Karotten, ein kleines Stück Butter, in Papier eingeschlagen.
Eine gute Beute, und Annie fällt es leicht, Mutter zu applaudieren, die Spucke
zieht sich in ihrem Mund zusammen, solchen Hunger hat sie, und Mutter teilt
alles großzügig auf, der Onkel Hermann bekommt nicht mehr als das Kind, sie
selbst am wenigsten, und was sie all die Tage gemacht hat, die sie nicht da
war, wird sie nicht erklären.
    Als jemand ein care-Paket zur Baracke bringt, ist Mutter gekränkt.
    Â»Das brauchen wir nicht, milde Gaben von den Amerikanern: Erst
bomben sie alles kaputt, und dann schicken sie Päckchen. Die glauben wohl, wir
kommen nicht allein zurecht.« Mit spitzen Fingern
packt sie das Paket aus und spottet über alles, zeigt es herum und lacht, »die
glauben wohl, hier gibt es keinen Zucker.«
    Es gibt in der Baracke weit und breit keinen Zucker, es hat noch nie
Zucker gegeben, Annie kann es kaum erwarten, den amerikanischen Zucker zu
probieren, der Vater hat doch die Amerikaner gemalt, auf den Bildern sahen sie
verwegen, mutig und kess aus, die Bombe auf ihr Haus war ein Versehen, das
sagen alle, und gegen den amerikanischen Zucker hat Annie nichts einzuwenden,
im Gegenteil steht er ihr zu nach all dem Löwenzahn. Aber Mutter kann den
Zucker nicht verwinden, die Seife legt sie zur Seite und den Brühwürfel auch,
aber den Zucker will sie den Amerikanern in den Arsch schieben, Annie staunt
über das Wort, aber Mutters Wut steigert sich zur bühnenreifen Ekstase, »nein«,
brüllt Mutter, »kein einziges Körnchen, niemals, baut unser Haus wieder auf,
bringt meinen Mann zurück, oder ich streue euch den Zucker in den Arsch«, und
weil kein amerikanischer Arsch in der Nähe ist, reißt sie die Packung auf und
streut den Zucker schwungvoll aus dem Barackenfenster. Der Onkel Hermann ist
heute als Publikum nicht zu gebrauchen, er schaut mürrisch vor sich hin und
beißt sich die Haut von den Fingernägeln. Also schaut Mutter atemlos zu Annie
herüber, während sie die leere Packung zerfetzt. Annie sieht ihr mit
aufgerissenen Augen zu, aber früh am nächsten Morgen, als Mutter noch schläft,
rollt sie sich leise von der Liege, kriecht vor die Baracke, der Lehmboden
unter dem Fenster zuckrig verschleiert, und schiebt den Zucker mit den
Fingerspitzen vorsichtig zu winzigen Haufen zusammen. Die Fingerkuppen schleckt
sie ab, die Zuckerhaufen will sie aufbewahren, tunkt nur zur Probe den feuchten
Daumen hinein, und berauscht von der unglaublichen Süße, legt sie sich auf den
kühlen Boden und leckt den Zucker von der Erde.
    Dünn bist du geblieben, schlank kann man auch sagen, ja,
eine Figur wie ein junges Mädchen, zumindest von hinten, sagst du spitzbübisch
und wartest, dass ich sage: auch von vorne.
    â€“ Ja, auch von vorne.
    Nichts Süßes für dich, ich will dich verführen, immer wieder
probiert all die Jahre, ein Mousse au Chocolat, ein Apfelstreusel, ein
Hefezopf, noch am ehesten mit Butter, guter Butter, aber Bonbons, Kuchen,
Teilchen, Zuckerstangen, Zuckerwatte:
    â€“ Niemals, kannst du mich mit jagen, lieber Pellkartoffeln mit Salz
und Butter.
    Papa mochte alles Süße, du kauftest ihm Desserts und Vanillequark,
Schokoladencreme, sogar Pralinen, großzügig bist du. Aber Backen gelernt hast
du nicht, wozu auch, wenn es dir nicht schmeckte. Zum Weihnachtsbacken kam die
Oma, denn mit den Kindern, sagte die Oma, muss gebacken werden.
    â€“ Willst du das deinen Kindern vorenthalten, Anne. Überhaupt
Weihnachten: Das muss man richtig feiern, ihr braucht eine viel größere

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