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Chronik der Nähe

Chronik der Nähe

Titel: Chronik der Nähe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Pehnt
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die Augen
presst, sodass sie etwas hervortreten und auf keinen Fall eine Träne
herauskommt.
    Langsam geht Annie zum Schutthaufen, der eben noch, vor ein paar
Tagen noch, ein Haus war, ein stattliches, grau verputztes, zweistöckiges Haus
mit einem Erker, zwei Gauben und schönen, rot glänzenden Dachziegeln, ihr
Elternhaus. Man darf den Schutthaufen nicht betreten, Mutter hat es verboten
und klettert doch selbst immer wieder in den Trümmern herum, fischt hier einen
Topf aus dem staubigen Schutt, dort ein Sahnekännchen, dessen blau gewölktes
Muster keinen Sinn mehr hat, weil es kein blau gewölktes Teeservice mehr gibt,
aus dem Vater immer seinen Nachmittagstee mit einem Schuss Sahne getrunken hat.
In seine rechte Hand, die so groß war, dass sie eine ganze Teetasse mühelos
umschloss, war Farbe eingelagert, sodass immer Spuren von Rot und Ocker in den
Rillen seiner Haut schimmerten.
    Neulich hat Mutter einen feinen zerrissenen Seidenschal unter einem
scharfkantigen Trümmerstück hervorgezogen. Mutter zupfte an dem Schal herum, er
war sowieso zerfetzt, und Annie verstand nicht, was Mutter damit noch wollte,
vielleicht war er von Vater und ein Andenken, aber sie fluchte und zerrte immer
heftiger an dem feinen Stoff, sie musste doch sehen, dass er gleich reißen
würde. Als er nachgab und mit einem sauberen Geräusch durchriss, schrie sie
auf, so laut, dass Annie vor Schreck zusammenzuckte.
    Es sind laute Tage, Mutter hat sich angewöhnt, mit den Händen in der
Luft herumzufuchteln wie eine Schauspielerin, und ihre Stimme ist durch das
viele Geschrei greller geworden. Den zerfetzten Schal holt sie manchmal hervor
und bricht in lautes Weinen aus, als wäre der Riss im Schal schlimmer als
Vaters Umfallen.
    Annie darf nichts herausholen, »vergiss die Spielsachen«, hat Mutter
gesagt, »du schürfst dir nur die Beine auf in dem Dreck oder Schlimmeres, der
Sohn von Lehnerts hat sich ein Stück Treppengeländer in die Wade gerammt bei
der Kletterei, das gibt eine Blutvergiftung.«
    Aber Annie hat die Spielsachen längst vergessen, sie braucht ja auch
keine Puppen mehr, schon lange hat sie nicht mehr gespielt. Sie sucht gar
nichts, sie krabbelt nur über die Mauerstücke und hebt die Scherben der
Dachziegel auf, deren Glasur in der Sonne glänzt wie Tortenguss, die steckt sie
in ihre Tasche.
    Â»Die Amerikaner«, sagt Mutter vorwurfsvoll, »hätten das Haus ruhig
stehen lassen können, schließlich hat der Vater ihnen die schönsten Bilder
gemalt, die nehmen sie jetzt mit nach Hause für ihre Liebsten und hängen sie im
Wohnzimmer auf, sie haben sicher schöne große Wohnzimmer dort drüben in
Amerika, aber Bilder zählen nicht, und Vater ist den Amerikanern egal, und nun
ist er sowieso tot.« Sie seufzt dramatisch und sagt, »auch wir hätten hier liegen
können, unter diesen Trümmern, viel hätte nicht gefehlt.«
Vater ist sowieso tot, denkt Annie, es ist egal, ob einer umfällt oder von
seinem eigenen Haus erschlagen wird.
    Â»Warum ist er tot umgefallen«, fragt Annie, aber Mutter seufzt nur
und sieht nicht so traurig aus, wie sie aussehen sollte, sondern wissend, als
hätte sie es kommen sehen. »Jetzt«, sagt sie, »muss ich dich allein
durchbringen, aber vorher war es auch nicht viel anders, denn Künstler, ganz
ehrlich, sind nicht gut im Familiendurchbringen, sie essen viel und bringen
nichts nach Hause.« Plötzlich greift sie nach Annie
und presst sie an sich, »wir halten zusammen«, murmelt sie, »du musst bei mir
bleiben«, und Annie nickt gegen ihre Brust, obwohl sie nicht weiß, worauf
Mutter hinauswill: Wo soll sie denn sonst hin.
    Früher lauschte ich auf den Regen vor dem Fenster, ein
prasselndes Geräusch, es könnte auch Feuer sein: Flammen schon am Haus, die
ganze Straße lichterloh, die Häuser nur noch rußige Schutthaufen, aber Häuser
brennen nicht ab, meistens nicht, nicht bei uns, heutzutage nicht, nicht
hierzulande.
    â€“ Mama, brennt das Haus ab.
    â€“ Nein, Häuser können nicht brennen. Das hab ich dir doch gezeigt.
    â€“ Wenn aber doch.
    â€“ Dann gehen wir vorher raus.
    â€“ Brennt die Schule ab.
    â€“ Nein, Schulen können nicht brennen.
    â€“ Gehst du weg von mir.
    â€“ Nein, ich gehe nicht weg und Papa auch nicht.
    â€“ Wenn aber doch.
    â€“ Nein, ich gehe nicht weg. Wohin soll ich denn gehen.
    â€“ Lässt du mich

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