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Chronik der Nähe

Chronik der Nähe

Titel: Chronik der Nähe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Pehnt
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könnte.
    â€“ Um Gottes willen, bloß nicht.
    â€“ Wenn du es nicht bald machst, ist es vielleicht zu spät, und dann
weiß ich nie, was damals passiert ist.
    â€“ Das weißt du auch so nicht.
    Und jetzt ist es vielleicht zu spät, oder doch nicht, ich könnte,
wenn du wieder sprichst, ein Aufnahmegerät in die Klinik bringen, ja, wir
machen das noch: alles aufschreiben, man muss es eben zusammenbringen, sonst
macht es keinen Sinn, und schließlich habe ich ein Kind, dein Enkelkind, du
schuldest ihm alles, und dann binden wir es in Leder.
    Im heißen Juli, eng neben der ausladenden Oma, die auf den
Oberschenkeln ein Sofakissen hatte und darauf das Album und langsam die
Pappseiten umwendete und die pergamentenen, mit Spinnweben bedruckten
Zwischenseiten glatt strich, fragte ich nichts, ich hielt einfach durch und
wartete, dass der Nachmittag verstrich und du bald aus der Klinik kämest und
der Papa zurück und nicht mehr zu besorgt wäre, und dachte, dass die Oma nach
Käse roch, nach einem etwas überreifen, leicht gegorenen Blauschimmelkäse.
    Als Annie Geburtstag hat, ist Mutter im Lande und sogar in
der Baracke, und sie hat auch ein Geschenk für Annie, das hat sie immer
geschafft und wird es immer wieder schaffen, ein Geschenk zum Geburtstag und
eines zu Weihnachten, das muss sein. Diesmal ist es ein Heftchen mit
Kunstpostkarten, kleine farbige Karten mit Bildern von Macke, Klee, Kirchner,
und Annie freut sich wirklich, sie reißt gleich einige Karten heraus und heftet
sie neben ihre Pritsche. Der Onkel Hermann hat kein Geschenk, aber er zieht
eine verbeulte Packung Zigaretten aus der Jacke, die er nie auszieht, und hält
sie Annie hin. Annie hat den Onkel Hermann noch nie rauchen sehen, verblüfft starrt
sie auf die Zigaretten.
    Â»Na komm«, sagt der Onkel Hermann, »du bist jetzt groß, probier halt
mal, junge Dame.« Annie will nicht, sie schaut
hilfesuchend zu Mutter, die ihr auffordernd zunickt. Der Onkel Hermann fasst
Annie kräftig am Arm und hält ihr die Packung direkt unter die Nase, »das ist
mein Geburtstagsgeschenk, das nimmst du jetzt, einmal muss jedes Mädchen das
probiert haben, was meinst du, was deine Verehrer sagen, wenn du nicht rauchen
kannst.« Beklommen zieht Annie eine Zigarette aus der Packung und steckt sie
sich zwischen die Lippen, der Onkel Hermann, der auf einmal lebhafter ist als
sonst und auch rote Flecken auf den Wangen bekommen hat, feuert sie an und
fischt in seiner Jacke nach Feuer, »das steht dir, junge Dame, du musst den
Rauch einatmen, tief einatmen, nicht gleich wieder ausstoßen, tief in die
Lungen, so machen es die Erwachsenen«, und er lacht zu Mutter hinüber, die
Annie beobachtet und abwartet, ob sie sich traut. Endlich schließt Annie die
Augen, saugt heftig an der Zigarette und zieht alles in sich hinein und hustet
einen Schwall, der Onkel Hermann lacht lauter als jemals zuvor und fasst Annie
heftig am Arm, »so, und jetzt gleich noch mal, dann wird dir nicht übel, dann
hast du es geschafft und bist eine junge Dame.« Annie saugt noch einmal und
behält den Rauch im Körper, bis ihr fast die Stirn platzt, dann stößt sie eine
Wolke aus, Onkel und Mutter klatschen Applaus, und der Onkel Hermann legt die
halb volle Packung auf die Fensterbank: sein Geburtstagsgeschenk für Annie.
    Das Organisieren geht eine Weile gut, aber dann reichen die paar
Kartoffeln und die Butterstückchen nicht mehr für den Onkel und das Kind. Der
Onkel Hermann braucht Medikamente, weil ihm das Atmen immer schwerer fällt, das
Knurren ist zu einem Keuchen geworden, manchmal sitzt er die halbe Nacht
aufrecht auf der Pritsche und ringt nach Luft. Annie braucht Bücher für die
Schule, sie lernt gern und viel und braucht immer mehr zu lesen, und die Bücher
sind alle verbrannt, also müssen sie neue kaufen, und Mutter lässt sich etwas
einfallen, sie hat immer Ideen.
    Ihre neue Idee ist, aus der Baracke auszuziehen und in der Stadt in
einer Wohnung zu leben, die näher an der Schule ist, und Geld zu verdienen für
das Kind und die Wohnung. Annie ist die neue Wohnung nur recht, weil der Onkel
Hermann dann vielleicht ein eigenes Zimmer hat, in dem er in Ruhe keuchen und
nachts wach sitzen kann, und wenn er hilflos und luftlos an die Wand starrt,
mit aufgerissenen Augen, dann muss es Annie in der neuen Wohnung nicht
mitansehen.
    Aber als sie umziehen, mit einem Handwagen, in den alles

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