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Chronik der Nähe

Chronik der Nähe

Titel: Chronik der Nähe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Pehnt
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weißt du
ja, dein Vater hat in Paris gemalt, es waren seine besten Jahre.« Annie erstarrt. Wieso weiß die Dame, was die besten Jahre
ihres Vaters waren. Annie dreht sich nach Mutter um, für den Vater ist sie
nicht zuständig, sie kennt diesen Vater nicht mehr und weiß nichts über seine
besten Jahre. Es könnten ja genauso gut die Jahre mit seiner kleinen Tochter
Annie gewesen sein, die auf seinem Schoß saß und sich von ihm das Mohnrot
zeigen ließ und seine Staffelei auf- und zuklappte, während er seinen großen,
dunklen Mantel auf die Wiese breitete, damit sie sich danach zusammen in die
Sonne legen konnten. Von einer Dame, die nach wildem Thymian aus dem Stadtpark
riecht, will sich Annie nichts, aber auch gar nichts anderes darüber sagen
lassen. Wenn, dann von Mutter, die ihr bisher nichts über die guten und auch
nichts über die schlechten Jahre des Vaters offenbart hat, sie hat ja auch
genug um die Ohren und einen Fremden im Bett, der sich so heftig an sie presst,
dass er den Vater wahrscheinlich aus ihr herausgewrungen hat, die besten Jahre,
hätte Mutter ja erzählen können, waren vielleicht auch die Jahre der frischen
Liebe, als der Vater, ein reifer, kluger Mann, ein Künstler, das junge
ungebärdige Ding direkt von der Wäscheleine weg heiratete, wo sie die weißen
Hemden ihres Vaters glatt schüttelte. Aber darüber hat Mutter nie ein Wort verloren.
    Â»Kann sein«, sagt Annie patzig zu der Dame und drängelt sich von ihr
weg, Mutter schaut ihr quer über den Tisch ernst in die Augen, dann reißt ihr
Gesicht auf zu einem Abschiedsstrahlen, sie springt auf und bringt das silberne
Tablett von früher mit Gläsern, randvoll mit einer weißlichen trägen
Flüssigkeit. »Ja, ein Likör«, ruft Mutter, »wir wollen anstoßen, worauf sollen
wir anstoßen, jeder wünscht sich etwas, und dann wird es passieren«, und auf
einmal greifen alle nach den Gläsern, auch Annie wird eins in die Hand
gedrückt. Eine heftige Wünscherei beginnt: Schönheit, Frieden, für Annie ein
hübscher Verehrer, Paris, Paris, »ein neuer Anzug«, ruft der Deutschlehrer
lachend und klopft sich auf das verschlissene Jackett, »eine neue Tischdecke«,
kreischt der Beamte und zeigt dramatisch auf die Brandlöcher, und nun gibt es
kein Halten mehr, jeder wünscht sich, was das Zeug hält, noch mehr Likör, und
schon wünschen sie sich Autos, einen neuen Herd, Stehlampen, den alten
Bauernschrank, der verbrannt ist, sie wünschen sich alles zurück, was kaputt
ist, das Silber zurück vom Bauern, der sie alle ausgenutzt und nun die Truhen
voller Silber hat, den Hund zurück, wo der wohl geblieben ist in der
Bombennacht, Schuhe wünschen sie sich, Tanzschuhe, Abendkleider, ach, es tut so
gut zu wünschen, dass sie nicht aufhören, nur wenn ihnen nichts mehr einfällt,
trinken sie ein Gläschen, dann geht es wieder weiter, bis sie dann doch gehen
müssen, zum letzten Mal ein Händedruck, ein Rückenstreicheln und Backenklopfen
für Annie, alle leer gewünscht und müde und alles Gute für die Zukunft noch
hinterher gewünscht im Treppenhaus.
    Als alles abgetragen, gespült, getrocknet und verräumt ist, die
Essensreste in Schalen auf dem Fensterbrett, der Onkel Hermann in der Kammer,
Annie auf den Knien am Boden mit dem Kehrblech, da fragt sie Mutter, ob sie
nun, weil der Mittagstisch zu Ende und jetzt mehr Platz ist und es niemanden
mehr angeht, was an den Wänden hängt, ob sie nun die Kopfweiden des Vaters
aufhängen können über dem Esstisch. Sie starrt auf Mutters Knie und den Saum
ihres Rocks, dreimal geflickt und hält immer noch. Mutter schaut hinunter zu
Annie, die sich klein und betrunken vorkommt dort unten zwischen den
zertretenen Blumenköhlchen und zerknüllten Servietten der Gäste, und überlegt.
Sie überlegt so lange, dass sich Annie aufrichtet, die Speisereste in den
Mülleimer leert, die Kehrschaufel neben den Herd legt und die Arme in die
Hüften stemmt.
    Â»Ich finde die Kopfweiden schön«, sagt Annie herausfordernd. »Ich
finde sie auch schön«, sagt Mutter müde. Da weiß Annie, dass die Kopfweiden
nicht im Zimmer hängen werden, schön, aber zu dunkel, wird Mutter sagen, auch
wenn jetzt keine Mittagsgäste mehr kommen, sie findet den Vater zu dunkel und
will ihn nicht im Zimmer haben, und dass sie Annie haben

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