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Chronik der Nähe

Chronik der Nähe

Titel: Chronik der Nähe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Pehnt
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Platz, du bist kein Kind mehr, und auch der Onkel Hermann braucht mehr
Platz, den wir ihm ja auch gönnen nach dem langen Leben.« Er zieht in eine
Wohnung im Parterre, nicht weit von ihnen, wenn Annie genug gespielt hat, kann
sie ihn besuchen, muss aber nicht. Vielleicht hat sie es ja doch richtig
gemacht, und nun wird sie mit mehr Platz belohnt, mit weniger Blicken, der
Onkel muss nun allein gegen die Wände starren, Annie und der Mutter kann er
nicht mehr hinterherschauen, und ein bisschen tut er Annie leid in seiner neuen
Wohnung, in der es nichts zu gucken gibt.
    Irgendwann kommt sie früher nach Hause, erschöpft von den langsamen
Jungs und ihren umständlichen Fehlern, ihrer schwitzenden Ungeschicklichkeit
mit der Sprache, und trifft den Apotheker im Treppenhaus. Er bleibt erschrocken
stehen, sofort weiß Annie, die sich mit Heimlichkeiten auskennt, dass er etwas
zu verbergen hat, und sie weiß auch sofort, dass es mit dem Geld und Mutter zu
tun hat und mit dem Platz und dem Onkel Hermann, der nicht mehr im Weg ist, und
ihr selbst, dem Kind, das draußen spielen soll, bis es dämmert. Sie drückt sich
am Apotheker, der rasch nach der Schule fragt und ihr im Namen seines Sohnes
für die gute Nachhilfe dankt, vorbei nach oben, steht in der Tür und sieht
gleich, dass Mutter die Haare verwegen hochgebunden und die Strümpfe noch nicht
wieder angezogen hat, und obwohl sie weniger erschrocken ist als Mutter, weiß
sie nun auch, dass Mutter ihre Zeit lieber mit dem Apotheker verbringt als mit
ihr, weil Annie ihr schon lange nicht mehr gesagt hat, wie sehr sie ihre Mutter
liebt, und ein erwachsener Apotheker mit viel Geld kann es sicher besser sagen
als ein Kind mit wenig Geld.
    Â»Ich verdiene auch Geld«, sagt Annie laut, »du brauchst das Geld
nicht vom Apotheker zu nehmen. Ich mache noch Nachhilfe, jetzt weißt du es, und
mein Stundenlohn ist gut, und wenn du das Geld willst, gebe ich es dir.«
    Aber Mutter hört nicht zu, »du hast das falsch verstanden«, murmelt
sie und sucht unter dem Tisch und am Sofa nach ihren Strümpfen, »du hast alles
falsch verstanden, und man kann es dir eben auch nicht erklären, weil du zu
klein bist«, und dann sinkt sie auf das Sofa und stöhnt laut, als täte ihr
etwas weh, dabei war doch eben noch der Apotheker da, der gegen alles eine
Medizin hat.
    Â»Mein Kopf«, stößt sie heftig hervor, so als sei es sehr dringend,
und Annie läuft still vor Wut zum Waschbecken, lässt das Wasser eiskalt laufen
und bringt ihr den kühlen Lappen, den sie wie immer von Annie erwartet.
    Sie teilen nun das Bett nicht mehr, Annie ist auch wirklich zu groß
dazu, sie braucht Platz, um sich unruhig hin und her zu drehen, wenn sie nachts
nicht schlafen kann, weil Mutter laut atmet oder stöhnt, sicher hat sie Träume,
mit denen sie sich herumschlägt. Annie träumt nichts. Tagsüber hat sie viel zu
tun, sie achtet darauf, keinen Nachmittag zu Hause zu bleiben, und strengt sich
an, nicht im Weg zu sein. Dafür belohnt Mutter sie, jetzt, wo mehr Geld im Haus
ist, mit großen Geschenken aus heiterem Himmel, sie bekommt eine Schultasche
aus Leder und einen leuchtend blauen Wintermantel, beides neu gekauft und nicht
getauscht und mit dem Glanz, den Dinge nur haben, wenn sie noch niemand besessen
hat. Annie freut sich, vor allem über den Mantel, und weiß, wie sie ihre Freude
zeigen muss, damit sie bei Mutter als gültige Währung durchgeht. Sie zieht den
Mantel über und schaut Mutter mit glänzenden Augen an, sie hat gelernt, diesen
Glanz in die Augen zu holen, eine Gabe, die ihr noch oft von Nutzen sein wird.
Dann dreht sie sich um die eigene Achse, damit Mutter die Schönheit des frisch
eingekleideten Kindes noch einmal genießen kann, und dann kommt das Wichtigste:
Annie tritt ganz nah an Mutter heran, nimmt ihr Gesicht in beide Hände und
flüstert, »du bist die Liebste.« Gleich spürt sie,
dass die Worte nicht gut genug sind, die Liebste sind viele, es muss anders
gesagt werden, und Mutter verharrt so lange mit geschlossenen Augen, bis sie es
hört: »Ich liebe dich sehr«, und da öffnet sie die Arme und drückt Annie
gewaltig an sich und küsst sie auf den Mund, ein Moment, den Annie zugleich
verabscheut und herbeisehnt.
    In dem neuen Mantel tritt sie anders auf die Straße. Sie muss nun
nicht mehr überlegen, ob sie im Stadtpark Stöcke mit den Kindern sammelt

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