Chronik der Nähe
Neckereien, wird Annie mit einem Mal wohlig. Die Arbeit macht ihr nichts
aus: aber dass die Gäste sie nicht aus den Augen lassen, dass sie sich zu ihr
umdrehen, wenn sie den Nachtisch aufträgt, und mit der Nase oder der Wange
ihren Oberarm streifen oder ihre Vorderseite berühren, die sich seit einiger
Zeit wund anfühlt und so zart, dass sogar das Unterhemd eine Zumutung ist und
erst recht die Nasen der Mittagsgäste, die zugleich über den ersten Opernabend
reden, der der zerstörten Stadt etwas Schönheit zurückschenken kann und
Lebensmut. Das begrüÃen die Mittagsgäste, sie sind Parteigänger von Schönheit
und allem, was mit dem Leben zu tun hat, kein Wunder nach all den kargen,
hässlichen Jahren, dass man sich nach etwas Jungem, Neuem sehnt, nach den frischen
Krokussen im Januar und nach einem Kind, das zum Mädchen erblüht, wenn man nur
ein Auge dafür hat.
Diese durstigen Augen sind es, die Annie den Mittagstisch vergällen,
da sind ihr die Nachhilfejungs doch lieber, die auch durstig sind, aber anders
und weniger versteckt, kaum zu zügeln, sie probieren es einfach, legen die
Hände an Stellen, wo sie unauffällig auf Annies Beine oder Finger zukriechen
können, stehen auf, um ein Buch zu holen, und schlingen plötzlich Annie gierig
von hinten die Arme um den Leib. Besser das als die Blicke der Mittagsgäste,
die Annie gestohlen bleiben können, und wenn Mutter eine bessere Idee hat, soll
sie ruhig alle vor die Tür setzen. Nur ob Annie dann wirklich mehr spielen und
weniger arbeiten kann, das muss sich noch herausstellen.
Es stellt sich heraus: Die Mutter setzt wirklich alle vor die Tür.
»Du weiÃt schon«, sagt sie zu Annie, »das fällt mir nicht leicht. Das sind
liebe Menschen, die mir gutes Geld bezahlt haben, aber eben nicht gut genug.
Ich will nur, dass du weniger arbeiten musst«, und sie zieht Annie zu sich
heran und schaut ihr eindringlich in die Augen, als wollte sie sie
hypnotisieren. »Wenn du einmal ein Kind hast«, sagt sie, »wirst du das Gleiche
tun und an mich denken«, und es klingt wie eine Drohung. »Ich will gar kein
Kind«, sagt Annie leise, auch dies eine Drohung, aber Mutter hat es nicht
gehört.
Natürlich wird es ein warmer, ja ein bewegender Abschied, es gibt
Geschenke und ein Abschiedsessen kostenlos, für das Annie zwei
Nachhilfenachmittage absagen muss, weil sie so viel zu tun hat, Kartoffeln
schälen, Kohl schaben, Karotten raspeln, Blumenkohl dünsten, das Abschiedsessen
soll nicht nur köstlich, sondern auch gesund sein und durch sein Aussehen
bestechen und einen letzten guten Eindruck hinterlassen, auch ohne Fleisch, das
einfach unerschwinglich ist. Ein schwieriges Unterfangen, der gute Eindruck,
wenn es nichts zu kaufen gibt und die Tischdecke schon lange kleine Brandlöcher
von den Glutbröckchen der rauchenden Gäste hat und die Gläser alle verschieden sind,
sosehr Annie sie auch poliert. Aber die Gäste bringen Blumen und sogar
Schokolade und sind wehmütig gestimmt, sie brodeln vor Ratschlägen für Annie
und Mutter, aber vor allem für Annie, die ja alles noch vor sich hat und also
alle Fehler der Welt machen kann.
»Paris«, sagt die alte Dame dringlich, »vergiss Paris nicht, Paris
vergisst man nie«, und sie fasst Annie an beiden Schultern, obwohl ihre Arme
nicht lang genug und zu dünn sind, um Annie wirklich festzuhalten, aber sie
schlieÃt beide Hände um Annies Arme, im Umarmtwerden bekommt Annie allmählich
Ãbung, und spricht ihr direkt ins Gesicht, als wollte sie ihr ein Gebet
beibringen. Annie riecht die KräutersoÃe, für die sie an den Schuttwiesen
hinter dem Park noch Zitronenmelisse und wilden Thymian gesammelt hat. »Und
wenn du dann alt bist wie ich«, spricht die Dame Annie vor, »kannst du sagen,
du hast Paris gesehen.« Annie denkt, dass man so alt
erst einmal werden muss, der Weg zum Altsein erscheint ihr unglaublich lang,
viel kann passieren, noch ein Krieg kann kommen, man kann sich die Waden im
Schutt aufreiÃen und an Blutvergiftung sterben oder im Keller ersticken oder
einfach tot umfallen. Auch Mutter ist den Weg erst zur Hälfte gegangen, und die
ist wirklich schon nicht mehr jung, aber auch noch lange nicht alt, und in
Paris ist sie nicht gewesen, bisher. »Dein Vater«, sagt die Dame noch und lässt
nun endlich Annies Arme los, weil ihre Hände anfangen zu beben, »das
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