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Chronik der Nähe

Chronik der Nähe

Titel: Chronik der Nähe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Pehnt
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ein
schlechtes Zeichen. Wenn ich jetzt nichts sage, sagst du gar nichts mehr, aber
wenn ich etwas sage, ist es genauso gefährlich, ich kann mich nicht entscheiden
und will alles hören: Wie war es denn für dich. Ich mache ein ermutigendes
Geräusch, eine Art Räuspern, nur nichts fragen, ein Sprechgeräusch, damit das
Sprechen nicht in Stille zerfasert, muss man Geräusche machen, hm ja.
    â€“ Ach komm.
    Die Stille ist zu Ende, du schüttelst die Hände, als hättest du zu
lange Klavier gespielt, auf einmal wieder fröhlich.
    â€“ Ach komm, wischst du alles weg, komm, das sind doch nur alte
Geschichten, jetzt bohr doch nicht immer so.
    Ich traue mich wieder zu atmen. Fassungslos atme ich ein und laut
wieder aus. Da: Jetzt bin ich die Angreiferin, kann sagen, was ich will. Wollte
doch nur mal fragen, ein bisschen zuhören, nichts wollte ich, und das ist so
ungerecht.
    Annie könnte, wenn sie könnte, wie sie wollte, immer noch
spielen. Sie ist jung genug dazu. Aber sie hat völlig verlernt, wie das geht.
Natürlich gibt es keine Spielsachen mehr, aber auch andere Kinder spielen ohne
Spielsachen. Sie pflücken sich Zweige und Äste und bauen daraus Verschläge oder
Häuser, sie schnitzen und flechten, sie nähen aus Lappen, Fetzen und Lumpen
alles Mögliche, sie sammeln und bauen, all das Zeug liegt auf den Straßen
herum, viel Platz, keiner, der meckert. Aber Annie muss ja Geld verdienen,
Nachhilfe geben und inzwischen auch beim Mittagstisch kleinere Arbeiten
übernehmen, spülen, abräumen, zur Unterhaltung beitragen. Doch selbst wenn sie
Zeit hätte, es fiele ihr nichts ein. Sie hat schon an manchen Nachmittagen,
wenn eine halbe Stunde sich auftat, in der nichts zu tun war, vor dem Haus
herumgestanden, hat den anderen zugeschaut, die einen Ball aus Stofffetzen hin
und her schleuderten. Oder sie hat sich im Park auf die Wiese gehockt, da, wo
früher das Teehäuschen war, und den Mädchen beim Seilspringen zugesehen, sie
hätte auch mitmachen können. Andere stehen an die Bäume gelehnt mit Jungen, sie
umfassen sich an den Hüften und wiegen sich hin und her, kleine lautlose Tänze.
    Ratlos schaut Annie den Grüppchen zu, wie sie sich hin und her
bewegen, wie sie springen, laut lachen, sich in die Augen schauen,
hintereinander herrufen. Sie ist so müde, zugleich zu alt und zu jung.
    Wenn sie einen Jungen hätte, mit dem sie durch den struppigen Park
laufen könnte, der sie festhalten würde, mit dem sie im Gleichschritt über den
Bürgersteig gehen könnte, die Hände verschränkt, so wie die Soldaten es tun mit
ihren Mädchen, die sie herumschwenken und an sich pressen, dann wüsste sie
wenigstens, was zu tun wäre. Sie müsste einfach nur dem Ruf des Jungen folgen,
durch die Stadt, gezogen von einem Magneten, einem Zugpferd, jemandem, der
zuständig ist.
    Â»Hast du schön gespielt«, fragt Mutter, als Annie verwirrt und
sehnsüchtig nach Hause zurückkehrt, ausnahmsweise ist sie in der Wohnung, ohne
zu arbeiten, sie sitzt auf dem Bett, die Hände ruhig auf den Knien, und schaut
zur Tür, als hätte sie auf Annie gewartet.
    Annie schaut sie an, einen Moment überlegt sie, ob sie Mutter fragen
kann, wie das noch einmal geht mit dem Spielen oder ob Mutter glaubt, dass sie
jetzt schon einen Jungen finden könnte oder ob sie noch zu klein dafür ist.
Aber es dauert zu lange, bis sie Worte findet, und Mutter nickt schon, als
hätte sie mit Ja geantwortet.
    Â»Du musst ja mal spielen«, sagt Mutter leise vor sich hin, »du
arbeitest viel, ich weiß das, in deinem Alter muss man auch spielen.«
    Annie klopft sich das Kleid ab und sagt nun endlich das, was
ansteht, beruhigend sagt sie, »ich spiele doch, Mutter, heute waren viele
Kinder draußen.«
    Die Mutter hat aber ihren ernsten Tag, sie lässt nicht locker mit
ihrer Sorge. »Du bist ein Kind«, sagt sie, als ahne sie nun doch, dass sich
Annie eben nicht mehr sicher ist und einiges verlernt hat. »Ihr seht alle nicht
aus wie Kinder, aber ihr sollt euch die Kindheit nicht nehmen lassen, ich
arbeite mehr, von nun an, damit du nicht aufhören musst zu spielen, ich könnte
den Mittagstisch aufgeben, er bringt zu wenig, ich arbeite mehr und du
weniger.«
    Bei dem Gedanken, die Mittagsgäste blieben aus, sie könnte allein,
nur mit Mutter und zur Not dem Onkel Hermann essen, keine Blicke, keine Fragen,
keine

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