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Chronik der Nähe

Chronik der Nähe

Titel: Chronik der Nähe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Pehnt
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will, obwohl der Vater
sie gemacht hat, ist überhaupt ein Wunder und geht nur, weil Annie alles
daransetzt, um das Richtige zu tun, und wie sie da noch mit irgendwelchen
Kindern irgendwelche dummen Spiele spielen soll, soll ihr mal jemand verraten.
    Ob sie mich damals wohl vertauscht haben, fragte ich, so
lange ist das nicht her, kurz nach der Geburt deines Enkelkindes. Es kann ja
leicht passieren in der Klinik, so viele kleine Wesen, alle einander ähnlich,
blind und rosa mit rudernden Armen und Beinen, ich war mir selbst einen Moment
lang nicht ganz sicher mit meinem Kind, als es mir gebracht wurde nach dem
Wiegen. Es kann doch sein, dass die Schwester nach dem falschen Kind greift und
es der falschen Mutter in die Arme legt.
    â€“ Nein, das merkt man doch, hast du es nicht gemerkt bei deinem
Kind.
    â€“ Woran denn.
    Verschmitzt schaute sie mich an, ob ich darauf kam.
    â€“ Erhöhter Puls, Herzklopfen, brennende Mutterliebe, schlug ich vor.
    Da warst du dir nicht so sicher, aber das eine, das sei untrüglich,
meintest du triumphierend:
    â€“ Wir sind uns doch viel zu ähnlich.
    Ich starrte dich an, suchte in deinem nicht jungen, nicht alten
Gesicht nach unserer Verwandtschaft: Deine Augen sind blau, nein grau, meine
grün, deine Haare braun, nein brünett, dunkel, Kastanie, meine nicht, du bist
schmal und flach, bescheiden und geschmackvoll gekleidet, ich weiß nicht, ob
wir uns ähnlich sehen.
    â€“ Innerlich, meine ich.
    â€“ Hast du mich im Arm gehalten und gewusst, dass ich es bin, fragte
ich.
    â€“ Ich habe dich gar nicht im Arm gehalten, sagtest du mit einem
bitteren Lachen, ich wusste gar nicht, wo du warst, ich habe dich tagelang
nicht gesehen, nur ein Stündchen am Morgen, eins mittags, eins am Abend zum
Füttern. Es war damals nicht wie heute in den Krankenhäusern, Mütter und Kinder
wurden getrennt, so war das eben.
    â€“ Aber woher wusstest du dann, dass ich es bin.
    â€“ Du hattest ein Schild am Handgelenk, und außerdem wusste ich es
eben, weil wir uns ähnlich sind, verstehst du. Aber wenn sie dich gebracht
haben, war ich außer Übung, ich musste mich erst wieder an dich gewöhnen
dreimal am Tag, du wolltest ja nicht trinken, nur geschrien, die Brust wieder
ausgespuckt wie saure Gurken, ich hab sie dir regelrecht ins Mäulchen gestopft.
    â€“ Das hab ich doch nicht extra gemacht, rief ich und musste fast
darüber lachen, dass ich mich als Baby verteidigte, das machen doch Babys nicht
absichtlich.
    â€“ Ach, dann hab ich es wohl falsch gemacht, schnappst du, immer sind
die Mütter schuld, das hat dir wohl dein Therapeut eingeredet.
    â€“ Ich habe keinen Therapeuten, rufe ich gekränkt, mir redet niemand
etwas ein, und wenn jemand einen Therapeuten braucht, dann, und nun muss ich
höllisch aufpassen und höre besser ganz schnell auf, denn Therapeuten sind für
Irre, und irre bist du ja nicht, bloß weil ich gebrüllt habe wie eine Irre.
    Weißt du, was die Iren machen, die Iren, nicht die Irren, kicherst
du plötzlich, der Stimmungsumschwung ist großartig und lässt mich schier nach
Luft schnappen, die Iren mischen ihren Babys Whiskey ins Fläschchen oder Bier,
was war es noch mal, was meinst du, wie friedlich die irischen Babys sind,
probier es doch auch mal, und wir lachen uns zu, schon werde ich weich:
Erleichterung, dass wir lachen, worüber, ist mir egal.
    Und später, wenn sie groß werden, sind sie alle Alkoholiker.
    Das Wünschen der scheidenden Mittagsgäste hat Mutter
gutgetan, sie habe sich beflügeln lassen, sagt sie, aber Annie weiß, dass
Mutter schon vorher beflügelt war und Pläne geschmiedet hat, und ein Plan ist,
dass sie dem Apotheker, dessen Sohn mit Annie französische Grammatik paukt,
eine große Summe Geld leiht, von der Annie bisher nichts wusste, sie dachte,
alles wäre weg. Dafür gibt der Apotheker Mutter einen Teil der Apotheke ab, so
erklärt sie es Annie, und wenn alles gut läuft, was es sicher tun wird, weil
die Leute immer krank werden und in diesen Zeiten erst recht, dann wird dieser
Apothekenteil immer größer und alle immer reicher. Woher das Geld kommt, will
Annie wissen. Mutter wechselt mit dem Onkel Hermann Blicke, der im Lehnstuhl
sitzt und den Kopf an die immergleiche Stelle der Wand lehnt, sodass sich auf
der Tapete ein fettiger Fleck abzeichnet, den Annie am liebsten mit einem
Bleistift umrandet hätte, weil er die Form eines

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