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Chronik der Nähe

Chronik der Nähe

Titel: Chronik der Nähe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Pehnt
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Fisches oder eines Schafes
hat, die man mit einer feinen Umrandung besser erkennen könnte, aber sie ist
einfach schon zu alt, um auf die Tapete zu kritzeln.
    Weder der Onkel Hermann noch Mutter sagen etwas über das Geld, ob es
von früher ist oder geschenkt oder vielleicht an den langen anstrengenden
Mittagen mit den Gästen verdient, das wäre gut, dann gehört es nämlich auch
Annie, die so oft, hundert- oder tausendmal, den Boden gefegt, die Kohlköpfe
geputzt und die Teller abgespült hat, dann wäre der neue Plan auch ihr Plan.
Vielleicht hatte der Onkel Hermann auch noch Geldscheine im Saum seines
Mantels, oder Mutter hat etwas gefunden, man kann viel finden in den Trümmern,
wenn man genau hinschaut.
    Mutter und der Onkel Hermann sagen nicht, warum sie das Geld nicht
lieber für eine größere Wohnung nehmen, wo Annie ein eigenes Eckchen haben
könnte, ein Bett für sich, eine Pinnwand für die Kunstpostkarten oder für eine
Reise nach Paris, wo der Vater die Kopfweiden gemalt hat in seinen besten
Jahren, und sie sagen auch nicht, warum die besten Jahre des Vaters nicht die
Jahre mit seiner kleinen Tochter waren, die ihn auf den wenigen Fotos, die
Mutter in den Bunker mitgenommen hat, hemmungslos anstrahlt, so heftig ist das
Strahlen, dass Annie, wenn sie die Fotos betrachtet, automatisch anfängt zu
lächeln, sie steckt sich am eigenen, längst vergangenen Strahlen für den toten
Vater an, weswegen sie auch die Fotos nicht allzu oft aus der Blechkiste holt.
    Und sie sagen nicht, warum ausgerechnet der Apotheker Mutters Geld
bekommen soll, ein Mensch, dessen Sohn sich mit der französischen Sprache dumm
anstellt und Annie hinterherhechelt, und wenn sie einen Jungen will, mit dem
sie durch die Stadt geht, Arm in Arm, bräuchte sie nur den Apothekerssohn zu
fragen, der sofort mit ihr durch die Stadt liefe und sie hinterher in die
Büsche nähme, dorthin, wo sich die Jungs und die Mädchen nackt ausziehen und
glauben, es sähe sie keiner. Alle Kinder kennen aber die Stelle, und es gibt
keines, das nicht schon zugeschaut hätte, am frühen Abend in der nussigen
Herbstluft, die viel zu kühl ist, um nackt im schlammigen Gras
aufeinanderzuliegen, aber die Paare in den Büschen kümmern sich nicht um die
Kälte und auch nicht um die Zuschauer, die mit geschickten Händen die
Brombeerranken und Fliederzweige auseinanderschieben und sich mit wohligem Ekel
daran gewöhnen, was morgen auch sie tun werden oder übermorgen oder in einigen
Jahren.
    Annie will mit niemandem hinter die Büsche und ganz sicher nicht mit
dem Apothekerssohn, und sie hat eine leise Befürchtung, dass es zwischen dem
Geld der Mutter und dem Apothekerssohn Verbindungen geben könnte, aber sie irrt
sich. Im Gegenteil sagt Mutter nun oft, Annie dürfe sich ihre Kindheit nicht
nehmen lassen, sie solle spielen, spielen, spielen, sie habe schon genug
gearbeitet für ein halbes Erwachsenenleben, und sie schiebt Annie nach draußen
in den Nachmittag und verbietet ihr die Nachhilfe. Da Annie nicht weiß, wie sie
ohne Jungen und ohne Spielen die Stunden herumbringen soll, lässt sie sich
nichts anmerken und läuft scheinbar spielfreudig auf und davon, bis Mutter sie
aus dem Blick verliert. Dann holt sie aus dem Schuppen in dem verlassenen
Garten gegenüber ihre Französischsachen und die Lateinbücher und geht doch zu
ihren Schülern, Mutter muss es nicht erfahren, nur dem Apothekerssohn hat sie
gekündigt. Das Geld versteckt sie in einer Socke, die Kleider in einer Tüte am
Stadtpark, die Gläser mit Milch und Saft, die sie sich verdient, trinkt sie
gleich aus und wischt sich den Mund; so verstreicht der Nachmittag ganz wie
gewohnt. Mutter merkt nichts, sie lobt Annie am Abend für ihre roten Wangen und
freut sich, dass Annie so erschöpft ist, müde sicher vom vielen Rennen und
Seilspringen und was die Kinder eben heutzutage so spielen. Annie schält sich
die Strümpfe von den Beinen und hängt den Rock über den Bettrand. Einen
Kleiderschrank mit Fächern könnte man haben, aber ohne Kleider lohnt es sich
nicht. Sie glaubt nun, dass sie am besten später nach der Schule gleich
Lehrerin werden wird, weil sie weiß, wie das geht, und sich auch nicht mehr
umstellen muss.
    Auf einmal ist dann der Onkel Hermann auf und davon, ausgezogen,
»wir müssen nicht immer aufeinanderhocken«, sagt Mutter stolz, »du brauchst
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