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Chronik der Nähe

Chronik der Nähe

Titel: Chronik der Nähe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Pehnt
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nein, sie weiß nicht, wo das Kindermädchen abgeblieben ist,
natürlich hat sie ihr die neue Adresse gegeben und sie eingeladen, sie ist ja
Teil der Familie, wenn es überhaupt noch eine Familie gibt, die der Rede wert
ist, und auf einmal sinkt Mutter auf das Bett und fängt an, laut zu weinen.
    Betreten schaut ihr Annie eine Weile beim Weinen zu, sie hat ein
Leben lang Übung und weiß, was die Tränen sofort zum Versiegen bringen würde,
aber sie wartet geduldig zwei, drei Minuten, bis Mutter sich ein wenig aufbäumt
und anfängt, zu schnell zu atmen. Dann erst geht sie hinüber zum Bett, beugt
sich über Mutter, streichelt ihren breiten Oberarm, der auf der Decke liegt wie
ein aufgegangener Hefeteig, und sagt, »doch gibt es eine Familie, ich bin ja da,
bei dir, bin ich etwa keine Familie.« Die aufgegangene
Mutter umschließt Annie mit den Armen, Annie sieht an sich herunter, die Arme
der Mutter wie ein Schwimmring um ihre Hüfte, und sie beschließt, es bald mit
den Jungs zu versuchen, damit andere Arme sie halten als die der Mutter.
    Jetzt kann ich dich nicht anrufen. Dieser Freitag: kein
guter Tag, keine gute Zeit, ohne Sprechen kein Anrufen. Also beschwer dich
nicht. Wenn du aufwachst, rufe ich gleich an. Am Montag vielleicht, Montag ist
ein Anruftag. Oder Dienstag, die Woche nimmt dienstags schon ihren Lauf, ich
hätte dir viel zu erzählen.
    Aber immer wenn ich dich anrufe: fassungslose Überraschung, gleich
auch helle Aufregung.
    â€“ Wie, was ist passiert, warum rufst du an, Schätzchen.
    â€“ Ich wollte nur mal hören.
    â€“ Bitte erschreck mich nicht so. Ich hab ja
schon ewig nichts von dir gehört.
    â€“ Ja, deswegen rufe ich ja an.
    â€“ Du musst nicht anrufen, das weißt du.
    â€“ Ich will aber anrufen. Du könntest ruhig auch mal anrufen, Mama.
    Kommt nicht infrage. Du bist telefonscheu, und kein Wunder.
Schließlich rief zweimal die Woche die Oma an. Sie vergaß den Anruf nie und
ließ ihn auch nie ausfallen.
    Als du bei mir zu Besuch warst, endlich gekommen, um dein Enkelkind
kennenzulernen, warum jetzt erst, rief Oma bei mir an. Sie fragte knapp nach
dem Kind, meinem Baby, und verlangte im gleichen Atemzug nach dir. Du seist für
sie wie die Luft zum Atmen.
    Ich reiche dir den Hörer, wer es ist, muss ich nicht sagen. Du
ziehst die Augenbrauen hoch, ich zwinkere dir zu, einen Moment lang sind wir
Verschworene. Ich gehe nach nebenan und schaue dem Baby beim Schlafen zu. Der
Richtige ist auf Reisen und kann nicht auf dich aufpassen. Obwohl er dich
inzwischen Mutter nennt, kommst du nur, wenn er nicht da ist, weil du ihn dann
nicht störst. Ich höre deine Stimme durch die Wand. Die Anrufe der Oma dauern
genau zwanzig Minuten, die mit dem Schlaf des Babys schnell vergehen. Als es in
der Küche still ist, gehe ich hinüber und finde dich mit aufgerissenen Augen,
ein schlechtes Zeichen.
    â€“ Sie hat so viel gesagt, was einfach nicht stimmt, ich kann es ihr
nicht erklären.
    â€“ Was denn erklären.
    â€“ Sie glaubt mir nicht, schluchzt du.
    â€“ Was denn glauben.
    â€“ Ich kann sagen, was ich will.
    â€“ Was willst du ihr denn sagen, ist es wegen früher und so.
    Da winkst du ab, legst einen Moment lang den Kopf in die Hände, eine
demütige erschöpfte Haltung. Ich sehe deinen Nacken, den die Friseuse
ausrasiert hat: wie ein Mann, einer, der vom Krieg zurückkommt, vielleicht will
er, will sie einfach nur schlafen. Ich lege dir eine Hand auf den Nacken und
streiche leicht über die Borsten, nur einen Moment. Da bäumst du dich schon
wieder auf, rastlos.
    â€“ Sie ist so ungerecht, sie hat einfach keine Ahnung, wie es für
mich war.
    â€“ Was denn überhaupt, wie war es denn für dich.
    Du setzt an, weißt nicht, was du sagen sollst, wo du anfangen
sollst.
    â€“ Ich habe ja auch keine Ahnung, wie es für dich war.
    â€“ Ja es war – also schön war es nicht, aber schlimm auch nicht, es
war –
    Diesmal versuchst du es, ich stehe dicht neben dir und traue mich
kaum, mich zu bewegen, du bist drauf und dran, von damals zu erzählen, du
darfst mir nicht entwischen: Wenn jetzt nur das Baby nicht aufwacht, das
Telefon nicht klingelt, der Küchenwecker, die Türklingel. Starr warte ich neben
dir und lausche in die Pause hinein, die sich zu einem Schweigen ausdehnt, nun
fährst du auch mit der Handfläche über den Tisch, als lägen dort Krümel:

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