Chronik der Nähe
leise fragt, ob sie in den Park gehen wollen, hinter den Entensee, wo
keiner sie sieht, weià sie, was sie tun werden, sie hat es ja oft genug gesehen
durch die Brombeerranken, und sie lehnt sich an ihn und nickt. Zusammen gehen
sie davon und hören die neidischen Pfiffe der anderen, bis ihr eigener Atem so
laut ist, dass er alles übertönt.
Als sie spät nach Hause kommt, zerkratzt und verkühlt und mit einem
Zittern in der Kehle, das der Junge nicht bemerkt hat, liegt Mutter, wach und
gespannt, nackt auf dem Bett, als hätten sie nun nichts mehr voreinander zu
verbergen. Es ist zu kalt, um sich zu waschen, und zu hell, um sich
auszuziehen. Annie setzt sich aufs Bett und tut so, als bürste sie ihre Haare,
die so kurz und strähnig sind, dass sie eigentlich keine Bürste braucht, und dann
zieht sie sich langsam die Strümpfe aus und hofft, dass Mutter auf ihren Lohn
verzichtet und sie schlafen lässt, aber Mutter stützt sich auf den Ellbogen,
ihre Brüste hängen bis auf die Bettdecke, und nickt ihr feierlich zu.
»Irgendwann ist es so weit«, sagt sie, »ich bin sicher, du hast auf dich Acht
gegeben.« Da kommen Annie die Tränen, und als sie
anfängt zu schluchzen und weinend in sich zusammensinkt, springt Mutter auf und
kommt zu ihr herüber, legt den Arm um sie wie vorhin noch der Junge und wispert
ihr Trost ins Ohr. Das ist ihr Lohn.
»Ich weià noch, wie es bei mir war«, flüstert sie, und Annie beiÃt
sich auf die Lippen und zählt lautlos vor sich hin, weil sie weiÃ, dass Mutters
Arm sie nicht stundenlang umschlingen wird und Mutter nicht stundenlang in ihr
Ohr tuscheln wird, sie wird zwei, vielleicht vier oder fünf Minuten tuscheln,
und so lange kann Annie lautlos zählen. »Und wenn dann der Richtige kommt«,
flüstert Mutter, »warte ab, dann merkst du es, dann denkst du an mich. Nur
vorher bloà kein Kind kriegen, sonst verpasst du alles.«
Gut, dass du den Richtigen hast, den richtigen allerbesten
Mann. Ganz felsenfest hast du den gefunden, hast ihn verführt, bezaubert, bald
schon geheiratet. Nicht irgendjemanden geheiratet, vorher kein Kind gekriegt,
dir Zeit gelassen, probiert, abgewartet, mit der Geduld, die dir zu eigen ist.
â Der war ja mein Chef, ein junger, aber strenger, schnurrbärtiger
Chef, ein ganz kluger, ich war ja nur das Schreibmädchen. Meinst du, der hätte
mich überhaupt gesehen.
â Aber dann hat er dich gesehen.
Dafür hab ich gesorgt, sagst du immer wieder, und immer wieder finde
ich dich hinreiÃend, wie du das sagst, als wäre es gestern passiert, wie du
immer noch dich kaum merklich aufrichten kannst, den Kopf zur Seite wenden,
dass man dein Profil sieht, wie du dir kleine Funken in die Augen holen kannst,
das hat den Jungs gefallen, aber der junge, strenge Chef hatte keine Augen für
Funken und Profile, er hat das neue Unternehmen erfunden und jung und streng
geführt, eine gute Zeit für Anfänge, so wie jetzt eine schlechte Zeit für
Anfänge ist. Gut, dass wir nichts anfangen müssen, sondern mittendrin sind,
Mama.
Samstag
Den Anfang zu erzählen ist eine unendliche Verlockung.
Frag die Menschen nach ihren Anfängen: Sie reden und hören nicht mehr auf.
Ich lasse nichts unversucht. Statt Besuchszeit heute Versuchszeit.
Versucht habe ich: meine Geburt, Griechenland, Omas Weihnachtsbacken und
Anfänge aller Art, weiÃt du noch, Mama. Als du Papa kennengelernt hast.
Bei deinem Herbstbesuch gelang der Sprung in die Anfänge, vom
Rotwein wurden wir hineingespült in die vertrauten Sätze, ein Konzert, das ich
mitsingen kann und immer wieder hören will, hoffentlich wachte das Baby nicht
auf, damit ich das Konzert genieÃen konnte.
â Es ging erst dann richtig los, sagst du, und ich kenne jedes Wort,
aber das macht nichts, es ist hinreiÃend, wie du ein wenig verlegen, ein wenig
schalkhaft nach Worten suchst, als hättest du es noch nie erzählst, erst dann,
als das mit dem Stuhl passiert ist.
Ich stütze mein Kinn in die Hand, um deine Lippen ist ein feiner
dunkler Rand vom Rotwein, der wie immer auf dem Küchentisch steht, wenn du da
bist, und dies ist ein guter Abend, weil wir von Anfängen reden und von dem
richtigen Mann, und ich habe ja jetzt auch einen, es ist gut, wenn Männer ins
Spiel kommen und nicht immer nur Mütter.
â Es war eine Besprechung, erzählst du, alle Mitarbeiter waren
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