Chronik der Nähe
oder
aus Entenfedern und Kastanien Ketten fädelt. Die Jungs, die am schmiedeeisernen
Zaun lehnen, drehen sich gleich zu ihr hin, als sie leuchtend blau
heranschlendert, das Schlendern fällt ihr plötzlich ein, sie ist noch niemals
vorher geschlendert, das tun nur Erwachsene mit Geld in der Tasche, aber wenn
sie gewusst hätte, welche Wirkung das Schlendern auf die Jungs am Zaun hat,
hätte sie sich vielleicht schon vorher daran versucht. Die Jungs, die sie
gestern gar nicht gesehen haben, folgen ihr nun mit den Blicken und drängeln
sich, einer winkt ihr zu, zwei stoÃen sich, ein anderer streckt ihr eine
Packung mit Zigaretten entgegen, und zum Glück weià sie, wie es geht, bleibt
stehen und zieht eine heraus, und da steht sie mit einem Jungen und raucht,
auch wenn es giftig und bitter in ihre Schleimhäute zieht, raucht sie die ganze
Zigarette, während der Junge ein paar Fragen stellt und dabei schwitzt, so wie
sie es von der Nachhilfe ja kennt, und es ist vergnüglich, dem Jungen dabei
zuzusehen, wie er sich eine Frage nach der anderen ausdenkt und sie dabei von
der Seite anschaut und vergisst, an seiner Zigarette zu ziehen. Der Nachmittag
ist kürzer als sonst, sie bleibt bei der Gruppe stehen, neben dem Jungen mit
der Zigarette, und schaut den Kindern zu, die sich einen selbst genähten
FuÃball zuschieÃen, und spürt, dass der Junge sich allmählich dichter an sie
heranschiebt. Wenn sie noch ein paarmal wiederkommt, wird er sich darin üben,
und sie wird sich darin üben, nicht an den Apotheker und die Nasen der Gäste
und die glitzernden Augen des Onkels zu denken, sie wird jeden Nachmittag etwas
mehr vergessen, sie wird die Lehrer und Beamten und den Apotheker auf dem Bett
ihrer Mutter vergessen, sie wird sich einen Büstenhalter kaufen, den sie noch
nicht braucht, und Mutter wird sie anschauen und sagen, jetzt bist du kein Kind
mehr. Dafür bist du zu klein: Das wird sie nie wieder hören.
Und so ist es. Mutter schaut sie an und schüttelt kaum merklich den
Kopf, nicht empört oder strafend, sondern einfach überrascht, was der Mantel
über Nacht aus Annie gemacht hat, und sagt, »du kriegst bald deine Periode, du
weiÃt, was das bedeutet.« Nein, das weià sie nicht, sie hat keine Ahnung, sie
kann auch nicht einfach fragen, die Jungs kann sie nicht fragen, und Mädchen
kennt sie keine, aber Mutter wird, auch über Nacht, zur leidenschaftlich
Verbündeten. Sie hält eine kleine feierliche Ansprache, sie scheut sich nicht,
Annie alles zu erklären, sie sei, sagt sie, ihrer Zeit voraus, Mutter spricht
offen über alles, das ist alles ganz natürlich, und ohne die Männer geht es ja
nicht, und jetzt, wo Annie eine Frau wird, kann sie ihr alles erzählen wie
einer Freundin, nein, nicht wie einer Freundin, es ist wirklich so: Sie werden
Freundinnen, und sie schenkt Annie ein Glas Likör ein, den ihr der Apotheker
geschenkt hat, und sich selbst auch eines, damit sie auf die Freundschaft
anstoÃen können. »Du weiÃt aber«, sagt Mutter, »dass du auch schwanger werden
kannst, ganz schnell geht das, die Jungs haben sich nicht in der Hand, die
schieÃen los, und wer hat die Scherereien. Krieg bloà kein Kind, das versaut
dir das ganze Leben.«
»Ich habe doch meine Periode noch gar nicht«, wendet Annie ein, aber
Mutter lässt sich nicht bremsen, »das liegt an der schlechten Ernährung, du
solltest längst so weit sein, deine Brust wächst, und deine du weiÃt schon,
meinst du, ich habe das nicht bemerkt, wir haben keine Geheimnisse voreinander,
oder.« Doch, will Annie rufen, aber die Strafe dafür wäre hoch, sie darf es
nicht sagen, aber sie darf nach drauÃen gehen, obwohl es schon dämmert, zum
Park, obwohl es dort für Mädchen nicht gut ist, aber Mutter ist, anders als die
meisten, ihrer Zeit voraus und lässt sie gehen, »geh nur, du musst lernen, auf
dich aufzupassen, ich bleibe wach, bis du wieder da bist, aber geh nur. Du
weiÃt ja jetzt alles, worauf es ankommt.«
Am Park treffen sich abends die Jungs, Mädchen kommen im Dunkeln
nicht, weil sie nicht dürfen, nur sie darf, sie ist die Einzige in ihrem blauen
Mantel, und als sie sich dicht neben dem Jungen mit den Zigaretten an den Zaun
lehnt, strahlt er vor Stolz und legt den Arm um sie, es ist einfacher, wenn es
dunkel ist, sie spürt den Arm wie ein heiÃes Band um ihre Schultern, und als er
sie
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