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Chronik der Nähe

Chronik der Nähe

Titel: Chronik der Nähe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Pehnt
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da, du musst es nicht immer herumtragen,
sonst gewöhnt es sich daran.
    â€“ Mama, Babys schreien eben, ich habe doch auch geschrien, ich habe
es überlebt, du hast es überlebt.
    â€“ Du weißt nicht, wie das ist, wenn ein Baby wirklich schreit, sagst
du stur, und es hat keinen Sinn zu sagen, dass ich seit drei Monaten und zwölf
Tagen sehr genau weiß, wie es ist, wenn ein Baby wirklich schreit.
    Ich lasse nicht locker, ich lasse dich mit dem Baby in der Wohnung
und gehe zum Friseur, das lasse ich mir nicht nehmen, meine Mutter ist zu
Besuch und schenkt mir ein paar Minuten für mich, ob sie will oder nicht, und
ich gehe zum Friseur, der meine vom Stillen dünn gewordenen Haare fransig
schneidet, mir Kaffee bringt und mit einem Gummihandschuh meinen Kopf massiert,
und ich denke keine Minute an dich und das Baby, du hast ein Kind großgezogen,
du wirst es schon schaffen, ich habe es vorher gestillt und werde es nachher
stillen und gehe wohlgemut und eine Stunde lang frei durch die Straßen, spüre,
wie meine neue Frisur beim Gehen wippt, vielleicht noch einen Kaffee an der
Ecke und ein Blick in die Zeitung, die Stunde ist noch nicht herum, und du hast
gesagt, ja, du passt auf das Baby auf, ja, eine Stunde geht schon, obwohl eine
halbe dir lieber wäre.
    Fast auf die Minute kehre ich nach Hause zurück, sammle auf dem Weg
noch ein paar Walnüsse von der Wiese, rücke den Müllwagen in den Schuppen,
schaue im Briefkasten nach Post, da höre ich es schon. Ich gehe ruhig in die
zweite Etage. Ein gewaltiges Gebrüll schallt durchs Treppenhaus, unterbrochen
von Sekundenbruchteilen der Stille, nur um dann wieder loszubrechen, so
schrill, dass ich nun doch schneller laufe, und schon werden die Brüste heiß,
alles feucht, ich drücke die Tür auf, Milchflecken auf dem T-Shirt. Da stehst
du an die Wand gelehnt und hast die Arme um den Leib geschlungen, zitterst wie
vom Schüttelfrost. Das Schreien kommt von nebenan in immer neuen Wellen. Ich
stoße die Tür auf und rempele dabei unsanft an deine Schulter, es ist mir egal,
ich entschuldige mich nicht. Das Baby liegt auf dem Wickeltisch, steif wie ein
gelähmtes Tier, und stößt die Arme und Beine immer wieder in die Luft, das
Gesicht zusammengepresst zu einer winzigen Grimasse, alles nur Geschrei.
    Es hätte, natürlich hätte es vom Wickeltisch fallen können, viel
hätte nicht gefehlt, und es wäre hinuntergerollt, es kann sich ja schon drehen,
das weißt du, ich habe es dir erzählt, stolz auf mein Kind, meine Tochter, die
sich schon dreht, wieder ein Mädchen, diese Weiber, eine Weiberfamilie.
    Ich schnappe das steife, nass gebrüllte Baby vom Wickeltisch und
reiße die Tür zum Flur weit auf und brülle in das Babygeschrei hinein dich an.
    â€“ Warum zum Teufel lässt du es denn schreien, ich fasse es nicht, es
hätte sich das Genick brechen können, zum Teufel.
    Du flüchtest in die Küche zur Birke, sofort eine Zigarette. Du sagst
kein Wort, nicht einmal eine Entschuldigung, irgendetwas, ich rausche ins
Wohnzimmer, verbarrikadiere mich mit dem Baby im Sessel, ich stille es, sofort
ist es ruhig und saugt sich an mir fest, und vor lauter Wut presse ich den Kopf
in den Sessel und drücke es fester an meine Brust als nötig.
    â€“ Komm wenigstens und schau dir das Baby an, es ist ja jetzt still,
kannst du ein Kind nicht beruhigen, oder was.
    â€“ Andere Kinder konnten allein im Wagen liegen und mit den
Fingerchen spielen, konnten in die Luft schauen und vor sich hinzwitschern, du
nicht, sagst du, und das soll die Erklärung sein, ich glaube dir kein Wort, es
reicht einfach nicht. Ich starre dich an und verlange mehr. Müde fährst du dir
über die Stirn.
    â€“ Du hast immer, immer geschrien, du
hattest immer Bauchweh, du warst eben einfach
schwierig. So bist du auf die Welt gekommen.
    â€“ Was zum Teufel soll das immer wieder heißen, wie bin ich denn auf
die Welt gekommen, wie denn.
    â€“ Schwierig, ich war ja allein mit dir, keiner hat nach mir
geschaut, die haben mich einfach allein das Kind kriegen lassen.
    â€“ Mama, was erwartest du, meinst du, jemand anders hätte mein Kind
für mich gekriegt.
    â€“ Die haben mich auf das Bett gelegt mitten im Hochsommer, das war
nicht so wie heute, hast du nicht verstanden, da kam vielleicht mal ein Arzt
vorbei, aber da warst du schon halb auf der Welt.
    Dem Baby fallen die Augen beim Trinken zu, seine

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