Chronik der Nähe
im
Konferenzzimmer, du weiÃt schon, langer Tisch, alles dunkel und feierlich, dein
Papa, der Chef, legte los, dann waren die Abteilungsleiter dran und sollten
berichten, und dein Papa, schon fängst du an zu glucksen, es ist die Freude des
Bekannten, die Lust der Wiederholung, dein Papa machte sich Notizen, aber dann
wurde ihm sterbenslangweilig, und er fing an, mit dem Stuhl zu kippeln, und
dann. Du machst eine Pause, nimmst einen Schluck Rotwein, ziehst eine Zigarette
heraus, und jetzt kommt mein kleiner Einsatz, unbedeutend, aber unverzichtbar,
ich muss sagen: Mach es doch nicht so spannend, Mama, und ich sage es gern. Und
dann, kicherst du, ein Schlag, so schnell konnte man gar nicht gucken, ein
heftiger Schlag, und der feine junge Chef lag am Boden, nach hinten geschlagen,
das kommt von der Kippelei, und da lag er auf dem Rücken wie ein totes Huhn,
Hinterkopf angeschlagen, und keiner durfte lachen. Wir lachen beide, wir
wissen, dass sich der Chef, mein Vater, dann aufgerappelt hat, dass er nicht
ernsthaft verletzt war, dass sich niemand getraut hat, etwas zu sagen, du schon
gar nicht, du warst ja nur das Schreibmädchen, aber dass er dann selbst
angefangen hat, schallend zu lachen, ansteckend war das, alle fielen ein, das
ehrwürdige Konferenzzimmer bebte vor Lachen, und er schaute dich an und
zwinkerte dir lachend zu, und da wusstest du, dass er dich gesehen hatte.
Danach noch ein paar Monate Geduld, ein bisschen mit dem jungen Chef
ins Museum gehen, auf das Riesenrad, in die Oper, gar nicht dein Ding, aber du
hast dich geduldig durch das pompöse Gedudel durchgehört: weil es sich gelohnt
hat.
Geduld kann sich verändern, verwildern; aus deiner wurde eine
Duldsamkeit, auf die du stolz warst.
Nicht krank werden. Wenn doch, dann nicht zeigen. Nicht beschweren,
auch nicht bei Papa. Die Kopfschmerzen: nicht der Rede wert. Wenn die
Kopfschmerzen kommen, stülpst du dich nach innen, ich habe es genau studiert,
ich kenne jeden Blick von dir, seit ich lebe. Du räumst die Spülmaschine aus
oder sitzt am Küchentisch, deine Finger werden unruhig, du wischst Krümel von
der Spüle, die es nicht gibt, dein Blick stülpt sich nach innen, eine Weile
geht es noch. Irgendwann kommt alles zum Stillstand, du sitzt nur noch
zusammengesunken da, mit einem verwundeten Gesicht. Dann kommt mein Einsatz:
â Mama, geht es dir eigentlich gut.
â Warum fragst du denn so, du bohrst schon wieder, du siehst doch, dass
es mir gut geht.
â Ich sehe, dass es dir eben nicht gut geht, leg dich doch hin.
â Willst du mich wegschicken.
â Ja, nein , ich will, dass es dir besser
geht.
â Dann hör auf zu bohren und lass mich einfach hier sitzen.
Aber das Sitzen ist kein einfaches Herumsitzen, es ist eine
Aufführung, und ich bin das Publikum. Papa liest versunken eine
Fachzeitschrift, Applaus nicht von ihm, wenn nur er da wäre, könntest du ins
Bett. Ich vibriere, ich will dich umarmen und wegschicken, ins Bett zerren und
umarmen.
Umarmungen sind undenkbar. Nur nicht anfassen: Der Schmerz macht
dich so wund, dass schon meine Blicke in dir herumwühlen, du müsstest allein
sein, aber niemand darf dich wegschicken, du hast ja uns, anfassen verboten.
Einsamkeit: gibt es nicht.
â Ich habe doch dich und Papa, was soll ich noch wollen, ich habe es
doch gut.
Darunter aber flackert immer etwas, eine Wut, eine Glut, etwas
Gieriges, Hungriges, wonach denn, kannst du das mal erklären.
â Ich weià gar nicht, was du meinst, ich bin nicht hungrig, ich habe
es doch gut.
â Mama, ich weiÃ, dass der Kühlschrank voll ist, ich meine etwas
anderes.
â Drück dich nicht in Rätseln aus, ich habe keinen Hunger, zum Glück
nicht mehr, du weiÃt ja sowieso nicht, wie sich das anfühlt: Ich habe alles,
was ich brauche, und vor allem euch.
Und so war es ja auch, eine glückliche Verbindung, ein lebenslanges
Glück, wenn nicht gerade die Kopfschmerzen in dir herumbohrten, das Warten hat
sich gelohnt, und es ist ja nicht so, dass du mit gefalteten Händen gewartet
hast.
Eine Nonne warst du nicht, hast Erfahrungen gesammelt, hast Männer
gesammelt, hast mir das Gleiche gegönnt. Hast mich sogar losgeschickt, wenn ich
zu Hause las und noch mehr las, mit einer Schale Wildkirschtee auf dem
Nachttisch.
â Willst du immer nur zu Hause sein. Was machen denn die aus deiner
Klasse am Samstagabend.
Und wenn ich zurückkam von meinen
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