Chronik der Nähe
Backe liegt auf
meinem Arm. Ich schaue es unverwandt an und frage weiter.
â Hast du geschrien.
â Weià ich nicht mehr, sicher nicht, ich habe nie geschrien.
â Hast du dich gefreut.
â Sicher ja, du kennst doch die Geschichte, warum fragst du so.
â Mama, du hast damit angefangen, und jetzt will ich sie eben noch
mal hören, jetzt kann ich es mir besser vorstellen, jetzt habe ich selbst ein
Kind.
Jetzt weià ich, ob sie stimmt.
â Das kann sich keiner vorstellen, da hat sich auch keiner für
entschuldigt.
â Entschuldigt, wofür denn entschuldigt.
Ich lasse nicht locker. Alles, was du jetzt sagst, reicht mir
einfach nicht. Ich schaue dich so lange an, bis ich weiÃ, was los ist. Ich
starre dich in die Enge. Erzähl es mir einfach, dann weià ich, was los ist.
â Wenn du mich so anstarrst, fällt mir nichts ein.
â Warum rauchst du dauernd.
â Das hat doch damit nichts zu tun. Weil ich es muss.
â Und auf das Baby aufpassen musst du nicht.
â Ich habe auf das Baby aufgepasst, es hat einen Anfall bekommen, da
habe ich es abgelegt, damit es sich beruhigt.
â Es hat keinen Anfall bekommen, es hat einfach geschrien, so wie
Babys schreien, und du hast es auf den Wickeltisch gelegt und bist abgehauen
und hast einen Anfall gekriegt, genau, du hast einen
Anfall gekriegt, so war es.
Mehr darf ich nicht sagen, es war schon zu viel, du bist jetzt so
starr wie eben das Baby, nur dass du nicht schreist. Starr stehst du am Fenster
und rauchst, und auf einmal sehe ich deine knochigen Schultern und wie der
Rollkragenpullover dir fast die Kehle abschnürt und wie deine Hände sich
zusammengekrallt haben und wie heftig du an der Zigarette saugst. Du bist starr
und wütend von Kopf bis FuÃ, und mit einer Umarmung könnte ich dich befreien,
mit zwei Umarmungen dich zu mir drehen, mit der dritten einen Glanz in deine
Augen drücken, mit der vierten meine Wut vergessen, mit der fünften dich wieder
lieben, mit der sechsten das sagen, was ich sagen muss, damit alles weitergeht:
Ich hab dich doch lieb, mit der siebten dich am Hals küssen, je mehr, desto
eher glaubst du, für eine Minute, vielleicht für einen Abend, dass es so ist,
ich muss mir nur Mühe geben, heute etwas mehr als sonst, viel mehr als sonst,
so viel Mühe wie vielleicht noch nie. Aber ich habe ja Zeit zum Mühegeben, das
Baby schläft, alles still.
Am nächsten Morgen gingen wir durch die Stadt, das Kind im
Wagen, alles still im Wagen, um uns herum StraÃenbahnen, Musik, Stimmen, wir
stoÃen uns an, hast du die gesehen mit dem komischen Hut und den da vorne, und
das ist ja ein lustiges Paar, was meinst du, wie lange die sich schon kennen,
und dort vorne im Schaufenster ist ein Bademantel, so wie du ihn schon immer
gesucht hast, dunkelblau mit weiÃ-blauen Streifen an den Ãrmeln und weiÃ-blauer
Knopfleiste.
â Den wünsche ich mir.
â Wozu brauchst du denn den.
â Na zum Schwimmen oder wenn ich in die Klinik komme.
â Dann kriegst du ihn nicht, sage ich, dann kommst du auch nicht in
die Klinik.
Der neue Plan der Mutter, die nicht verzweifelt dem Geld
hinterherstarrt, sondern sofort weiterdenkt und umdenkt und den Apotheker schon
hinter sich gelassen hat, ist ein Kind. Es gibt keinen Mann, mit dem sie eines
machen könnte, und eine Tochter reicht ja auch, aber genug andere Kinder
brauchen jemanden, der sich um sie kümmert, und dieser Jemand könnte Mutter
sein, sie ist gut im Lieben von Kindern und könnte damit sogar Geld verdienen.
»Wir können eine richtige Familie werden«, erklärt sie Annie, »wir
nehmen ein Kind auf, das uns braucht, und geben ihm all unsere Liebe, und damit
verdienen wir mehr Geld als mit dieser vermaledeiten Apotheke.«
Annie überlegt, wie viel Liebe sie abzugeben hat, sehr viel ist es nicht, ein
wenig davon bekommt der Junge, sehr viel davon Mutter, mit dem Rest muss Annie
gut haushalten, um sich daran zu wärmen in Zeiten der Not. Sie hat auch keinen
Platz abzugeben, mit Mutter will sie kein Bett mehr teilen und die
Kunstpostkarten nicht schon wieder umhängen, »aber das ist Geiz«, sagt Mutter,
und Geiz ist nichts, worauf man stolz sein sollte. Annie findet sich weder
stolz noch geizig, sieht aber den Ekel in Mutters Blick, eklig, so eine geizige
Tochter, deren Herz zu klein ist für eine Familie.
»Du hast dir doch sicher oft eine richtige Familie
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