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Chronik der Nähe

Chronik der Nähe

Titel: Chronik der Nähe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Pehnt
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halbherzigen Versuchen: den
Abenden an der Wand einer Disco, in der hinteren Reihe eines Bandkonzerts,
alles zu laut und die Jungs zu verschwitzt und meine Hände zu verschwitzt und
die Füße zu ungeschickt, nicht getanzt, den anderen zugeschaut beim Tanzen und
mich in niemandes Arme gewünscht, dann warst du im Bett. Ich hatte Weißwein
getrunken, nur um meine Finger wenigstens um das Glas legen zu können, und eine
ganze Schale Erdnüsse aufgegessen, um meine Lippen bewegen zu können, es war
eine hohe Kunst, zufrieden kauend an der Wand zu lehnen und nicht sehnsüchtig
auszusehen und vor allem nicht allein. Die Nüsse und der Wein schlugen Wellen
in meinem Magen, ein gelangweiltes Elend stand mir im Hals.
    Und deine Tür war zu. Ich konnte unbehelligt den Rauchgeschmack und
den sauren Wein weggurgeln, die Kleider in den Wäschekorb stopfen, konnte
unbehelligt in mein Zimmer, konnte auch meine Tür schließen und lesen und in die
Zuverlässigkeit des Buches eintauchen, obwohl mir die Buchstaben vor den Augen
verrutschten, so müde war ich. Aber ohne das Buch kein Schlaf, nur die Musik
wie eine Maschine im Kopf und die Blicke des einen oder anderen, die meine
Hände noch klammer machten, ganz klar kein guter Ort für mich: lieber im Bett
hinein ins Buch, auch darin kann ich Erfahrungen sammeln, kann mich verlieren
und verlieben, in den Richtigen und den Falschen oder in alle zugleich, was für
ein Fest.
    â€“ Ich war nicht so ohne, sagst du, wenn wir über Anfänge reden,
stolz und zeigst die Fotos aus dem lackierten Kasten, in dem du alle Bilder vor
meiner Zeit aufbewahrst, und ich muss es zugeben, du warst wirklich nicht ohne,
ein langbeiniges, langmähniges junges Ding mit einem leicht spöttischen
Grübchen im Kinn, das sie alle verrückt gemacht hat, das Grübchen schenkte dir
einen Hauch von Überlegenheit und Ironie. Und das, sagst du, das ist überhaupt
das Entscheidende, die Männer wollen dich erobern und nicht umgekehrt, du
darfst nicht zu ihnen gehen, lass sie kommen, das brauchen sie.
    Das hast du mir auch gesagt, als es dann doch passierte, im Urlaub,
unter deinen Augen, der Nachbarsjunge im bretonischen Ferienhaus, ein
sommersprossiger Kerl mit tiefer Stimme und einer Hochseeangel, mit der er bis
zum Bauch im Atlantik stand und auf große Fische wartete, und dieser
Urlaubsfischerjunge riss mich einfach irgendwann bei einem Gemeinschaftsgrillen
hinter einen Baum und küsste mich so sehr, dass ich nicht mehr an meine klammen
Hände dachte, und dann ging er lässig zurück zum Grill, ohne sich nach mir
umzudrehen, ich hinterher. Von da an folgte ich ihm ständig, ich musste ihm
hinterherschauen, ich wartete auf das nächste Mal, ich wollte unbedingt sofort
wieder von ihm hinter einen Baum gezogen werden oder ins Gebüsch oder in das
Spielzelt seiner lästigen kleinen Schwester.
    Aber da konnte ich lange warten. Er ging mit seinen riesigen
Gummistiefeln den Weg hinunter zum Strand oder fuhr mit seinen Eltern ins
nächste Städtchen, um Langustinen zu essen, und ich lungerte aufgeregt und
zittrig am Ferienhaus herum und wartete auf ihn.
    Du müsstest ernsthaft mit mir reden, sagtest du irgendwann, und du
wolltest mir das mit dem Warten erklären und was die Männer brauchen, und ich
sollte mich neben dich setzen an die warme bretonische Hauswand und mich dir
anvertrauen. Aber ich setzte mich nicht, ich lehnte unruhig an der Wand und
schaute über eine Schulter nach dem Angeljungen. Wenn du immer nach ihm spähst,
wird er sich um dich keine Mühe geben, sagtest du. Ich denke, ich soll
Erfahrungen machen, murmelte ich, ich konnte mit dir nicht über den Angeljungen
reden, vielleicht hattest du ja gesehen, wie wir im Spielzelt aneinander
herumnagten, und deswegen werde ich mich nie wieder unter deinen Augen
verlieben. Es gibt niemanden, der das besser versteht als du.
    Den Onkel Hermann kann man bestürzen, findet Annie heraus,
wenn man ihn küsst. Früher hat sie es nie getan, er ist kränklich und riecht
säuerlich und drehte den Kopf weg, wenn sie ihn zu Weihnachten umarmte. Aber
nun kann er sich kaum noch bewegen, tagsüber sitzt er am Fenster in seiner
Parterrewohnung, zählt seine Tabletten und schaut auf die zusammengefaltete
Zeitung, die Mutter ihm jeden Morgen auf den Schoß legt, und wenn Annie zu
Besuch kommt, bewegt er sich nicht, sondern dreht nur den Kopf etwas. Weil sie
nun selbst

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