Chronik der Nähe
gewünscht«, sagt
Mutter heftig und etwas angewidert, »und nun machen wir uns eine, du bekommst
ein Geschwisterchen, du wirst sehen, das fühlt sich schön an.«
»Wir sind doch auch so eine Familie«, sagt Annie so leise, dass
Mutter es nicht hören kann. Und wenn sie Papas Kopfweidenbild aufhängen würden,
noch viel mehr.
Mutter geht zum Amt und ins Heim, um ein neues Geschwisterchen für
Annie auszusuchen, es gibt so viele, die eine neue Mutter gut brauchen können.
»Du kommst mit, du kannst auch was dazu sagen, schlieÃlich müsst ihr euch ja
lieben, und dazu gehören immer zwei.« Annie sträubt
sich aber, »früher hast du mich doch auch nie mitgenommen, wenn du weg warst.« Lieber steht sie mit dem Jungen am Park und raucht wütend
und fragt den Jungen, wie er es fände, wenn man ihm einen Bruder ins Haus
setzte. Der Junge zuckt mit den Schultern, er kann sich das nicht vorstellen,
»wenn du es nicht willst«, sagt er, »komm einfach zu mir«, und dafür bekommt er
von Annie einen sehr tiefen langen Kuss, obwohl es heller Nachmittag ist und
gerade zwei Soldaten vorbeikommen, die zu ihnen herüberschauen und etwas auf
Englisch rufen, Annie kann kaum Englisch, aber unfreundlich klingt es nicht.
Mutter kommt zurück vom Geschwisteraussuchen, in Tränen.
»Du glaubst es nicht, all das Elend«, ruft sie, »ich wusste gar
nicht, wen ich zuerst in den Arm nehmen soll, alle brauchen mich.«
»Und welchen nimmst du«, fragt Annie.
»Nehmen wir, meinst du«, sagt Mutter, »wir nehmen das Kind, das uns
am meisten braucht, es ist ein Mädchen, und du kommst morgen mit, es anschauen.«
Auch morgen will Annie sich nichts und niemanden anschauen, sie will
keine elenden Kinder besichtigen, eher, findet sie, könnte jemand anderes sie
besichtigen und in eine glänzende, liebevolle Zukunft entführen. Aber diesmal
muss sie mit, wütend knöpft sie sich in den blauen Mantel und schlägt den
Kragen hoch, und als Mutter ihr den Arm unterschieben will, vergräbt sie die
Hände in den Taschen.
Eine Schwester öffnet ihnen, vielleicht ist es auch eine Nonne, sie
hat ein gebügeltes Tuch über das Haar gebunden und ein glattes, käsiges Gesicht
und scheint Mutter zu kennen, »heute sieht es gar nicht gut aus«, raunt sie ihr
zu, und dann begrüÃt sie Annie mit einem Kuss, den sie mit einer raschen
Bewegung so flink auf Annies Stirn drückt, dass Annie nicht ausweichen kann.
»Komm nur, sie wird sich freuen.«
Das mögliche neue Geschwisterkind sitzt ganz hinten im
Gemeinschaftsraum zwischen brüllenden Jungs, die sich etwas WeiÃes zuwerfen,
das aussieht wie ein totes Tier. Es duckt sich und freut sich überhaupt nicht,
weil es die Mutter gar nicht erkennt. Sein Mund steht offen, ein Spuckefaden
hängt von seiner Unterlippe, und seine Augen sind weit aufgerissen und nach
oben verdreht, sodass es vielleicht die Decke sieht, aber auf keinen Fall die
Besucher.
»Hier ist jemand für dich«, sagt die Schwester, »ein lieber Besuch«,
und sie drückt den nach hinten gekippten Kopf des schielenden Mädchens hoch,
bis seine Augen ungefähr nach vorne schauen. Es schnauft und fährt mit der
Zunge über die Lippen. Mutter beugt sich zu ihm und nimmt sein Gesicht zwischen
die Hände, »ich habe dir jemanden mitgebracht«, murmelt sie so zärtlich, dass
Annie heià wird vor Scham oder Wut, und Mutter winkt Annie näher: »Sag ihr doch
Guten Tag.« Als Annie, die sich nicht vom Fleck rührt,
»guten Tag« murmelt, stöhnt das Kind und fuchtelt plötzlich heftig mit den
Händen, als wollte es eine Fliege verjagen.
»Sie freut sich«, sagt Mutter bestimmt und zwinkert Annie mit einem
gütigen Lächeln zu, »es freut sich, dich kennenzulernen.«
Annie weicht nach hinten zurück und prallt gegen einen Tisch. Sie
sieht sich rasch um, wo der Ausgang ist, aber die Jungs haben ihr wildes Spiel
auf den ganzen Raum ausgedehnt, auf einmal fliegen lauter weiÃliche schlaffe
Beutel durch die Luft, und Annie sinkt auf einen Stuhl und hält sich die Augen
zu.
»Gebt die Wäsche her, ihr Lausejungs«, ruft die Schwester oder eine
andere Schwester, alle sehen gleich aus mit den Tüchern über dem Haar, überall
wimmeln sie herum, und es wird immer lauter, das Kind stöhnt, von hinten ein
Wimmern, auch Babygeschrei und das Brüllen
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