Chronik der Nähe
der Jungs, die Ohren zuzuhalten
hilft gar nicht, Annie muss hinaus und sich drauÃen gegen die Hauswand lehnen
und in der Tasche eine Zigarette finden, die sie sich ansteckt und raucht,
obwohl gleich Mutter herauskommen und sie erwischen wird, zum ersten Mal. Aber
Mutter braucht ewig, um sich zu verabschieden, und das ist Annie nur recht, sie
raucht und schlieÃt die Augen bei jedem Zug.
Zu Hause müssen sie über Mutters neuen Plan reden. Aber nicht
einfach so. Mutter brüht einen Tee auf, zündet eine Kerze an und zieht die
Vorhänge zu, als hielten sie eine geheime Veranstaltung ab.
»Nein«, sagt Annie, »nein, nein.«
»Hast du nicht gesehen, wie sie uns braucht«, sagt Mutter.
»Nein«, sagt Annie. Um ihr Nein zu bekräftigen, fügt sie hinzu, »der
Onkel Hermann braucht uns auch.«
»Ja, und ist unser Herz nicht groà genug«, ruft Mutter.
»Und was ist, wenn du Kopfschmerzen hast«, sagt Annie. »Oder wenn
ich zur Tanzstunde will.«
»Ach, du willst zur Tanzstunde. Und wer soll das bezahlen.«
»Ich zahle das selbst«, sagt Annie, »ich habe genug Geld.«
»Aber wenn wir das Geschwisterchen nehmen, haben wir noch mehr Geld,
es reicht dann für uns alle, für den Onkel Hermann und für deine Tanzstunden«,
ruft Mutter und strahlt. Auf einmal fällt Annie ein, das Geschwisterchen hätte
doch etwas Gutes: Mutter wäre so mit Lieben beschäftigt, dass Annie
vorübergehend entlassen wäre, sie müsste dann keine kalten Tücher gegen Kopfweh
mehr bringen und brauchte Mutter nicht vom Jungen zu erzählen, denn Mutter wird
keine Zeit mehr dafür haben und wird an den Augen und den Lippen des neuen
Geschwisterchens hängen, und nachts wird sie müde sein, erschöpft von der neuen
Familie, und nicht aufbleiben, und vielleicht, denkt Annie, ist das eine gute
Lösung. Aber dann denkt sie an die rollenden Augen des Mädchens und die wild
schlagenden Hände, dauernd wird etwas umfallen, und sie wird es aufwischen,
weil Mutter nicht alles gleichzeitig tun kann, Mutter wird die Hände des
Mädchens halten und ihr liebevoll ins Ohr flüstern, und Annie wird am Boden
sitzen mit dem Wischtuch und der Kehrschaufel, und darum: nein.
Ich will ein Kind, sage ich zu dir, und du runzelst die
Stirn: Aber du hast doch schon eins. Zwei machen doppelt so viel Arbeit.
â Ich weiÃ.
â Du wolltest doch an die Uni.
â Jetzt nicht mehr.
â Wozu hast du denn promoviert.
â Um Kinder zu kriegen, sage ich bockig, und wenn du es genau wissen
willst: Ich bin auch schon schwanger.
Einen Moment lang schaust du vor dich hin, dann sagst du: Das habe
ich geahnt.
â Wieso, sage ich und merke, wie mir auf einmal das Wasser in den
Augen steht, aber geheult wird nicht.
â Weil du keinen Kaffee genommen hast heute Morgen, rufst du
triumphierend, schwangere Frauen mögen keinen Kaffee, meinst du, ich merke das
nicht.
Das ist es nicht, was ich hören wollte. Ich versuche es noch einmal:
â Du bist, ich meine, du wirst, du wirst
noch einmal GroÃmutter, Mama. Willst du wissen, in der wievielten Woche ich
bin, wie es mir geht, ob es mir übel war oder übel ist, ob ich Rückenschmerzen
habe, ob ich mich freue.
Natürlich willst du das alles wissen, es ist ja auch schön, wenn die
Familie wächst und die Kleine ein Geschwisterchen bekommt, und der Richtige wird
überglücklich sein, weil er sich eine groÃe Familie mit fünf Kindern wünscht,
anders als du, und Geld genug haben wir ja, weil der Richtige richtig verdient,
und auf den Kopf gefallen bin auch ich nicht, immerhin promoviert, und die
nächsten zwanzig Urlaube an der Ostsee mit Sandeimer, bitte, wem es gefällt,
und ich sehe schön aus, wenn ich schwanger bin, so rund und mit groÃen Brüsten,
von hinten sieht man nichts, aber von vorne bin ich eine einzige Wölbung, jetzt
noch nicht, aber bald. Also: Deinen Segen habe ich, aber beschweren soll ich
mich dann nicht, und die Stelle an der Uni, die kann ich vergessen.
Weil Mutters Plan an Annies Nein gescheitert ist, ist das
groÃe Schweigen ausgebrochen. Morgens steht Mutter nicht auf, um Annie vor der
Schule Kaffee zu machen, sie schläft einfach weiter, und obwohl Annie den
Verdacht hegt, dass sie nur so tut, überzeugt sie sie immer wieder durch lautes
Schnarchen und verträumtes Schnaufen. Annie braucht niemanden, der ihr Kaffee
macht,
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