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Chronik der Nähe

Chronik der Nähe

Titel: Chronik der Nähe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Pehnt
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beinahe täglich geküsst wird, hat sie sich einen Überschuss an
Küssen zugelegt, den sie an andere weitergeben und sogar zu kleinen
Experimenten einsetzen kann. Ein Experiment ist es, den Onkel Hermann so lange
zu küssen, bis er bestürzt abwehrt.
    Â»Nein, lass nur, lass gut sein, na jetzt, na, lass mal gut sein.« Er will sie wegschieben, hat aber die Kraft nicht, weil
er nur die Hände benutzen kann, nicht die Stoßkraft der Arme, mit den Fingern
wehrt er sie ab und macht scheuchende Bewegungen. Aber Annie ist stark geworden
und muss lachen, und ihre Stärke und Frische ist in der Nähe des fahlen,
zappelnden Onkels noch strahlender, er windet sich und hüstelt, und sie küsst
einfach weiter, hört plötzlich auf und läuft aus der Wohnung, bis morgen oder
übermorgen oder irgendwann, vielleicht wartet er auf sie, das weiß sie nicht.
    Der Zigarettenjunge wartet immer, jeden Abend am Park, inzwischen
auch mittags nach der Schule, er wartet gern und küsst sie mit aufgestauter
Freude, und sie rauchen und warten, bis jemand vorbeikommt, den sie kennen,
dann küssen sie sich noch mehr. Als es Winter wird, kriechen sie sich mit den
Händen unter die Mäntel und in die Strumpfhosen, in seine Wohnung können sie
nicht, wo der Vater, den der Krieg das linke Bein gekostet hat, schnaubend im
Wohnzimmer sitzt und gereizt darauf wartet, dass er jemanden anknurren kann,
und in ihre auch nicht, wo Mutter sitzt und über Geld nachdenkt, weil die
Apotheke nicht das tut, was alle von ihr erwartet haben. Eher schrumpft sie,
was Mutter nicht glauben kann in einer Zeit, in der alles zu wachsen beginnt,
die Städte, die Auslagen der Läden, die Tochter, wieso soll da die Apotheke vor
sich hin kümmern. Es muss und wird am Apotheker liegen, den sie zur Rede
stellt, aber nicht im Bett, sondern in voller Bekleidung und in Annies Beisein,
sie soll es ruhig hören, was mit ihnen geschieht, sie kann der Wahrheit ruhig
ins Auge sehen, und die Wahrheit ist, dass der Apotheker Mutters Geld in den
Sand gesetzt hat.
    Â»Woher war denn überhaupt das Geld«, fragt Annie, als der Apotheker
gegangen ist, davongejagt, mit geröteten Wangenknochen und dem Versprechen,
alles zurückzuzahlen, mit Zinsen natürlich, irgendwann, wenn er wieder solvent
ist, er wird einen anderen Kredit aufnehmen, um Mutter ihren zurückzuzahlen, es
ist ihm egal, wenn er sich dabei bis ans Ende seiner Tage verschuldet. Mutter
hat hinter ihm die Tür zugedrückt und steht noch einen Moment kopfschüttelnd im
Flur, als müsste sie sich fragen, warum sie sich für diesen Menschen jemals die
Haare hochgebunden hat. Annie fragt noch einmal, da wehrt sie ab, »das musst du
nicht wissen, alles musst du nicht wissen.«
    So ist es also, mit Mutter befreundet zu sein, es ist eine
Freundschaft mit Geheimnissen, Annie darf viel wissen, aber nicht alles, Mutter
darf alles wissen, weiß aber nicht alles. Das muss sich Annie merken und weiß
es ja auch schon.
    Ich schaue dir zu, wie du dein Enkelkind nimmst, du hast
vergessen, wie es geht, aus der Übung bist du, und sofort fürchte ich, du
könntest es fallen lassen. Du hältst es so ungeschickt, die Arme etwas vom
Körper weggestreckt, die Ellbogen viel zu hoch in der Luft, es ist anstrengend,
ein Baby so zu halten, nimm es doch zu dir.
    â€“ Aber es weint ja, es will nicht bei mir sein, nimm du es wieder.
    â€“ Aber Mama, es weint, weil es Bauchweh hat, trag es doch etwas
herum, dann hört es schon auf.
    Aber du hältst es hilflos in der Luft und schaust es nicht an,
schaust stattdessen zu mir, nimm es doch.
    Ich nehme das Baby und lege es mir aufs Brustbein, damit es meinen
Atem spürt und sich beruhigt, ich gehe langsam mit ihm auf und ab, eine Hand an
seinem Rücken, und drücke es behutsam an mich.
    Du bist in die Küche gegangen und rauchst in die Birke hinaus, als
ich hinterherkomme, das Baby noch im Arm, du schaust nicht zu uns und blinzelst
nach draußen, und ich hätte es schon gern verstanden, wieso du das Kind nicht
nimmst und wieso du vergessen hast, was zu tun ist, oder ob du es überhaupt
einmal wusstest und wieso du störrisch nach draußen starrst: Birken
interessieren dich sonst auch nicht. Ich sollte dich interessieren, dein
Enkelkind sollte dich interessieren, freuen sollst du dich an ihm, und wenn es
weint, dann weint es eben und hört auch wieder auf.
    â€“ Leg es doch ab, sagst du

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