Chronik der Nähe
das kann sie allein, seit sie denken kann und seit wieder Kaffee im Haus
ist, sie sitzt früh um halb sieben fröstelnd am Küchentisch, dessen schartige
Plastikkanten ihre Fingerspitzen auswendig kennen, und wartet, dass es Zeit
wird, zur Schule zu gehen. Das Schweigen der schlafenden Mutter ist besser
auszuhalten als das Mittagsschweigen, wenn Mutter in der Küche herumfuhrwerkt,
ab und zu aber innehält und mit einem versonnenen, sehnsüchtigen Blick aus dem
Fenster schaut, hinter dem es nicht viel zu sehen gibt: Die Trümmer sind weg. Das
Kaufhaus an der Ecke bekommt eine neue Fassade aus gewalttätigem Silber, ein
Kiosk hat eröffnet und sich mit Wimpeln geschmückt, die ganze StraÃe sieht
aufgeräumt aus, und die Bewohner fegen jeden Freitag den Bürgersteig, das alles
sind tröstliche Anblicke, die das Unkraut in den Baulücken, die Einschusslöcher
im Rathaus und den Schlamm im Stadtpark allemal aufwiegen. Aber Mutter träumt
nicht diesen Anblicken hinterher, sondern dem möglichen Schwesterchen, das bei
ihnen sitzen und die Stille mit seinem Lallen und Rufen hätte füllen können,
ein Lätzchen hätte es zum Essen gebraucht, und Annie hätte es füttern können,
fast wie ein Baby, die Mutter und Annie wären die Eltern dieses groÃen
verdrehten Babys gewesen. Das meint Mutter mit ihrem verschwommenen Blick aus
dem Fenster, da ist sich Annie sicher, da braucht Mutter nichts zu sagen, und
sie sagt ja auch nichts.
Annie ist schon zu groÃ, um jeden Tag auf das Ende des Schweigens zu
hoffen, sie weiÃ, dass Mutter zäh ist und lange durchhalten kann und dass sie Mutter
dann erlösen darf, wenn es von ihr verlangt wird. Bis es so weit ist, sitzen
sie schweigend beim Essen, schnell ist der Tisch abgedeckt, Annie lässt Mutter
in ihrer vorwurfsvollen Versonnenheit in der Küche zurück und läuft beim Onkel
Hermann vorbei, der von dem Geschwisterplan nichts mitbekommen hat. Sie
verwirrt ihn durch Küsse und macht dann am Park gleich damit weiter, und wenn
der Junge nicht da ist, gibt es andere Jungs, die nur darauf warten.
Inzwischen gehört sie nicht mehr nur einem, sondern allen ein
bisschen, der Junge darf alles, aber die anderen auch vieles.
Auf dem Weg zum Park spricht eine Nachbarin sie an, die Mutter eines
der Jungs, sie kennen sich vom Sehen, Annie hat immer von Weitem höflich
gegrüÃt, so wie es sich gehört, aber seit sie zum Park geht, hat die Nachbarin
nicht mehr zurückgenickt. Nun prallen sie ineinander, als Annie aus der Wohnung
des Onkels springt, gleich rutscht ihr der Gruà über die Lippen, höflich, wie
sie ist. Die Nachbarin bleibt stehen und starrt Annie an. Etwas liegt ihr auf
den Lippen, aber wenn sie es nicht sagen kann, läuft Annie lieber gleich
weiter, sie hat schon genug Schweigen um die Ohren und muss nicht noch mehr
davon haben. Als sie sich abwendet und losgeht, sagt die Nachbarin so leise,
dass es unüberhörbar ist: »Du weiÃt schon, was die anderen sagen.«
Annie versteht nicht, fragend und höflich schaut sie die Nachbarin
an, die sich schwertut, unruhig rückt sie an ihrem Hut und lässt die Augen hin
und her springen.
»Was denn«, fragt Annie schlieÃlich leise.
»Ich werde mit deiner Mutter sprechen«, sagt die Nachbarin, sie wird
auch immer leiser, sodass sich Annie näher zu ihr hinstellen muss, »ich werde
ihr sagen, dass es Sünde ist, was du tust.«
Annie starrt auf den Mund der Nachbarin, die sich sorgfältig die
Lippen bemalt hat, im Kaufhaus mit der neuen Fassade gibt es eine
Kosmetikabteilung, die wächst und wächst wie alles in der Stadt.
»Sünde«, wiederholt sie und versucht zu begreifen, was die Nachbarin
sagen will. Da fällt es ihr ein, natürlich, die Nachbarin hat sie am Park
gesehen, wie sie mit den Jungs geraucht hat, Mädchen dürfen auf der StraÃe
nicht rauchen, sie sollen es schon können, aber nicht tun, zumindest nicht vor
aller Augen, und erleichtert, mit einem kleinen Lachen, weil diese Sünde unziemlich,
aber wohl verzeihlich ist, sagt sie, »ich weià schon, ich will es mir auch bald
wieder abgewöhnen.«
Da packt die Nachbarin sie am Mantel.
»Abgewöhnen«, zischt sie, »du kriegst doch Geld dafür, du kleines
Luder, aber meinen Jungen fasst du nicht an, ich habe ihm das Taschengeld
gestrichen, und wenn er dir auch nur einen Pfennig bezahlt hat, kriege ich
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